Die USA stecken in der Systemkrise, während in Deutschland die Mitte gesucht wird

Unverhofft wird dieser Herbst 2014 zu einer Festveranstaltung für Freunde der politischen Systemlehre. In den USA kämpfen die beiden seit jeher herrschenden Parteien um die finanzpolitische Zukunft ihres Landes und haben sich jetzt mühsam eine Verschnaufpause herausgehandelt, aber stellen durch die Entwicklungen der vergangenen Wochen auch weiterhin das Konstrukt ihrer demokratischen Ordnung auf eine in diesen Ausmaßen nie gekannte Bewährungsprobe. In Berlin wiederum wird dem Kompromiss geradezu gehuldigt; Vertreter von Grünen und CDU kamen wie Verliebte von ihren Treffen, und auch in den Sondierungen mit der SPD waren die Bestrebungen, jede scharfe Kante des Wahlkampfs zu einem Handschmeichler umzuformen, erfolgreich.

Schon sprachgeschichtlich sind die Bedeutungen des Wortes Kompromiss in den Kulturen sehr unterschiedlich hinterlegt – im europäischen Raum eher positiv, weil nach der Kompromissfindung eine Entscheidung steht und eine Entwicklung möglich wird, in den USA hingegen wird der Aspekt des Nachgebens und des Verlustes stärker betont. Um bei dieser Ausprägung dennoch ein funktionierendes Staatsgebilde formen zu können, wurde in den Staaten das in der Antike genutzte „Check and balances“-System weiterentwickelt, bei dem eben durch gegenseitige Kontrolle verschiedener institutioneller Einheiten ein Gleichgewicht geschaffen wird – im Idealfall jedenfalls.

Wie sich aber zuletzt wiederholt gezeigt hat, ist dieses Vorgehen stark von einem gemeinschaftlichen Ziel – etwa der Stärke eines Landes im internationalen Vergleich oder der gerechten Verteilung von Wohlstand im Inneren – abhängig. Schon die immer stärkere Einflussnahme von Lobbygruppen und der Wirtschaft hat diese Grundidee ausgehöhlt. Die gleichzeitige Radikalisierung innerhalb der Republikaner, in der die ultrakonservative Tea-Party-Fraktion immer mehr an Einfluss gewinnt und ganz offen mit einem Sturm durch die Partei droht, wenn deren Vertreter sich nicht ihren Vorstellungen beugen, sorgt nun für eine echte Krise.

„Balances“ ist eben nicht zu erreichen, wenn sich eine der wichtigen Gruppierungen nicht dem „Check“, sondern dem Boykott verschreibt und längst umgesetzte Entscheidungen wie die Obama-Gesundheitsreform in jeder neuen Lage wieder in die Verhandlungsmasse einbezieht.

Gefährlich ist dieses generelle Vorgehen für die Zukunftsfähigkeit der USA auch deswegen, weil nicht mehr die traditionellen Werte der Aufklärung als Grundlage des Handelns genutzt werden und also nicht mehr Bildung, Forschung und Vernunft stilprägend sind, sondern religiöser Eifer und die Werteprägung einer gesellschaftlichen Minderheit die Rationalität aushebelt. Und da die USA eben nicht ein Staat wie jeder andere ist, wirkt sich das auf das Weltgeschehen aus; wie wenig Vertrauen noch in die lange beschworenen Selbstheilungskräfte der Amerikaner gesetzt wird, zeigt auch die Entscheidung der chinesischen Rating-Agentur vom Donnerstag, die Bonität der USA mit Verweis auf die jüngsten politischen Entwicklungen herabzustufen.

Wer also mit Spottvergnügen (das ja auch bei Journalisten ausgeprägt ist) angesichts der bevorstehenden Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD auf die Wandlungsfähigkeit der deutschen Politiker blickt, die eben noch als unantastbar beschriebene Politikfelder plötzlich neu bestellen, sollte den Blick über den Atlantik im Hinterkopf haben. Zwar stimmt es, dass die hiesigen Parteien in der Mitte zusammenrücken und sich die Lager auflösen, es stimmt auch, dass dadurch gleichzeitig die Ränder tendenziell gestärkt werden – aber das ist immer noch viel besser als ein gegenseitiges Aushebeln unter genereller Infragestellung eines gemeinsamen Ziels.