Marco Antonio Reyes Loredo, TV-Produzent, hat sich mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit einen Platz in der Hamburger Kulturszene erobert. Alexander Schuller weiß jedoch, dass dieses Spiel Teil des Programms ist.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Marco Antonio Reyes Loredo bekam den Faden von Rashid Shater und gibt ihn an Eva Hubert weiter

Marco Antonio Reyes Loredo hat sich ein Gyros bestellt, mit Käse überbacken, in Metaxa-Sahnesauce. Und mit Pommes. Der Shooting-Star der Hamburger Kultur- und Medienwelt, 34 Jahre alt, kann es sich leisten. Er ist hoch gewachsen, sportlich und schlank. Vermutlich liegt das daran, dass er regelmäßig läuft, die längeren Strecken. So ab 5000 Metern, meint er, werde er langsam warm. Und wenn er in seinem Kiez was zu erledigen hat, schwingt er sich auf ein orangefarbenes Transportrad mit zwei mächtigen Gepäckträgern, das er aus der Konkursmasse eines privaten Postunternehmens herausgekauft hat. Nur wenn es schüttet, nimmt er den Bus. Die Linie 13, die inzwischen berühmte Linie 13, mit der ihn seit Kurzem viel mehr verbindet als nur der Fahrschein.

Marco Loredos Kiez ist Wilhelmsburg, „der zurzeit spannendste Stadtteil“, sagt er zwischen zwei Bissen, „deshalb wohnen und arbeiten wir hier.“ Das „wir“ meint seine Freundin; Kerstin Schaefer, 34 Jahre alt, die ihre Magisterarbeit über die „Wilde 13“ geschrieben hat, aus der erst ein Buch wurde, dann ein Dokumentarfilm. Und der wurde gerade auf dem Hamburger Filmfest bejubelt. Jetzt soll die Geschichte des Vielvölkerstadtteils und seiner Aorta sogar auf die Bühne des Thalia Theaters kommen. Marco Loredo schüttelt den Kopf, als ob er das alles nicht so richtig begreifen könnte.

Das „wir“ meint auch seine Produktionsgesellschaft, die den griffigen Namen „Hirn und Wanst“ trägt. Sie residiert auf dem Gelände der ehemaligen Wilhelmsburger Zinnwerke, gleich neben der alten Halle mit freitragendem Dach, die schon seit zwei Jahrzehnten leer steht. Dann sollte plötzlich der Fundus der Staatsoper dorthin gebaut werden, ein monströser Neubau, dem noch andere Objekte in der Nachbarschaft hätten weichen müssen. Aber Marco Loredo war dagegen. Er organisierte den am Ende erfolgreichen Widerstand gegen die Hochbaupläne des Eigentümers, der Sprinkenhof AG.

Sein Vorteil war, dass er neben einigen einflussreichen Feuilletonisten auch viele bekannte Kulturschaffende der Hansestadt auf seiner Seite wusste: Musiker, Maler, Schriftsteller, Schauspieler und Regisseure. Hinzu kamen einige Leute von weit oben (aus dem Bezirksamt Mitte) und von ganz weit oben (aus dem Rathaus), die damit beschäftigt sind, die Stadt zu entwickeln und die Kultur zu fördern. Die sich immer riesig freuen, wenn eine Problemzone wie „Williburg“ plötzlich „spannend“ wird, von innen heraus. Und nicht nur wegen einer IBA und deren defizitärer Schwester igs.

Darüber hinaus wusste Marco Loredo mit seiner Beharrlichkeit zu überzeugen, etwa in den Bezirksversammlungen, wo er mit stoischer Gelassenheit auch schon mal 75 Tagesordnungspunkte an sich vorüberziehen ließ, bis „sein Thema“ als Letztes endlich zur Sprache kam. Was vielen Abgeordneten Respekt abnötigte: Sie fühlten sich und ihre Sitzungstätigkeit von ihm ernst genommen. Sogar seine Gegner, die den halben Bolivianer mit thüringischen Wurzeln als Pickel am Gesäß empfinden, gestehen ein, dass er einen inhaltsreichen auch stilvollen Widerstand gegen den geplanten Opernfundus inszeniert hatte. „Herr Loredo ist gut vernetzt und vorbereitet, argumentiert geschickt, gern mit leiser Ironie, wird aber nie ausfallend“, charakterisiert ihn eine Mitarbeiterin der Hamburger Kulturbehörde hinter vorgehaltener Hand. Dabei ist es in der Szene längst bekannt, dass die Kultursenatorin sein Tun und seine Person schätzt. Marco Loredo lächelt verschmitzt und streckt das Besteck. Zu viel Gyros. Hinter ihm rauscht ein Bus der Linie 13 durch die Veringstraße. An diesem Sonntag um 11.30 Uhr wird er im Dritten Programm über den Fernsehschirm huschen. „Meckern kann jeder“, sagt Marco Loredo, „ich aber präferiere das Machen. Einfach. Nur. Machen!“

Das klingt arrogant, schon so ein wenig nach Überflieger, der dabei immer wieder seine zweifellos vorhandenen Begabungen mit charmanter Koketterie herunterspielt. Der es meisterhaft versteht, Stringenz, Kalkül und Können unter einem Teppich aus vermeintlicher Planlosigkeit zu verbergen.

Seine prägende Kindheit und Jugend erlebte er in Weimar. „Als Jungpionier habe ich bei der alljährlichen Sammelaktion von Sekundärrohstoffen selbstverständlich immer den ersten Platz belegt“, gluckst er. „Und auch sonst war die DDR für mich ein Gummibärenland, voller Abenteuer. Aber ich war auch ein Kind.“

Andererseits habe er als Sohn eines Bolivianers, der sich während seines Studiums in Weimar in eine Stadtplanungsstudentin verliebt hatte und hinter dem Eisernen Vorhang geblieben war, einen „Exotenbonus“ besessen. Und weil sein Vater die doppelte Staatsbürgerschaft besaß, durfte der relativ häufig in den Westen reisen, sodass Marco schnell begriff, dass West-Jeans bequemer waren und viel cooler aussahen. Hinzu kam, dass sein um neun Jahre älterer Bruder ihn zwang, Westfernsehen zu gucken. Besonders gern schaute Marco die „Mitternachtsshow“ aus dem Schmidt-Theater. Und als dann noch die Musik von Udo Lindenberg den Weg in seine Ohren fand, „wurde Hamburg zu meinem Sehnsuchtsort“.

Es war ein facettenreicher Weg an die Elbe, und spätestens ab dem Tag des Mauerfalls muss man seine Biografie wie die Tagesordnungspunkte einer Bezirksversammlung einen nach dem anderen abhaken:

1. Abitur in Weimar. Nebenbei eröffnet Marco, gerade 18, ein eigenes Fitnessstudio, das er bald wieder gewinnbringend verkauft.

2. Zivildienst in Freiburg. Im Nebenjob wird Marco Buffetier in einem Fünf-Sterne-Hotel und weiß danach, wie gutes Essen schmecken soll.

3. International Business Studies in Wernigerode. Marco lernt rechnen.

4. Sprachkurs in Barcelona. Marco frischt sein Spanisch auf, verliebt sich und reist mit seiner Freundin ein Jahr durch Südamerika. Sie bringt ihm das Kochen bei: auf einem „Juwel“-Campingkocher aus DDR-Produktion.

5. Marco kommt endlich in Hamburg an und beginnt ein Volkskundestudium mit dem Schwerpunkt Stadtforschung. Er zieht zu Johannes Wienand in eine WG, dem Architekten des neuen Schmidt Theaters. Als er zufällig den Rohbau besucht, fragen ihn die Elektriker, wo die Steckdosen hinkommen. Als ehemaliger Jungpionier kann Marco Karten und Pläne lesen. Er gibt die entsprechenden Anweisungen. Wienand ist so zufrieden mit ihm, dass er ihn später auch an der neuen Südtribüne des Millerntorstadions mitwerkeln lässt.

6. Im Dunstkreis des Schmidt’s lernt Marco immer mehr Hamburger Künstler kennen und sie ihn.

7. Marco verliebt sich in Kerstin Schäfer und krempelt sein Leben um. Sie renovieren ein Loft im Puhsthof und gründen mit ihrer gemeinsamen Freundin Eva Steindorf, ebenfalls aus Weimar, die Hirn und Wanst GmbH.

8. Während der Renovierungsphase kommen viele Künstler vorbei, zum Teetrinken und Labern. Einer ist (der leider verstorbene) Nils Koppruch von der Hamburger Band Fink. Er fragt scherzhaft: „Willst du hier etwa Fernsehen machen?“

9. Im Mai 2009 beantwortet Marco Koppruchs Frage, indem er aus der Wohnküche vor Publikum die erste Folge der „Konspirativen Küchenkonzerte“ (KKK) moderiert, die vom Community-Sender Tide TV ausgestrahlt wird.

10. Ab jetzt wird Marco neben dem Regisseur Fatih Akin und einigen anderen zu den Hauptverursachern des Kultur-Hypes gezählt, der in Wilhelmsburg grassiert.

„Ist das nicht toll?“, ruft er beseelt, „Künstler gestalten meine Wohnung, ich kriege exklusive Privatkonzerte, die ganze Produktionsmannschaft besteht nur aus meinen Freunden, und so habe ich das Plaisir, in einer arschlochfreien Zone mein Geld verdienen zu dürfen.“ Die Sendung, eine Mixtur aus Kultur, Kocherei und Klamauk, war so ballaballa und innovativ, dass sie 2010 für den Grimme-Preis nominiert wurde, als erste Sendung eines offenen Kanals überhaupt. Daraufhin lief die zweite Staffel der KKK bereits im ZDF-Kulturkanal, was ihnen 2012 die zweite Grimme-Nominierung bescherte. Kommende Woche wird er mit dem NDR über die Zukunft verhandeln. Eine dritte Staffel vielleicht? Marco Loredo schweigt diplomatisch. Lieber erzählt er, dass ihn der TV-Produzent Hubertus Meyer-Burckhardt angerufen habe: Ob „Hirn und Wanst“ sich vorstellen könne, auch Spielfilme zu produzieren? Er setzt seine Unschuldsmiene auf. „Wir haben das noch nie gemacht. Ich weiß auch gar nicht, ob wir das können. Aber wir können es ja mal versuchen.“ Blödsinn. Natürlich weiß Marco Loredo das. Vielleicht bekommen sie ja dann im dritten Anlauf den Grimme-Preis.