Doris Tito baut Brücken, auf denen man nicht gehen kann, die aber sehr unterschiedliche Menschen verbinden. Jenny Bauer traf die Leiterin des Projekts „Seitenwechsel“.

Der Türöffner hat noch gar nicht richtig aufgehört zu summen, da kommt Doris Tito bereits lächelnd mit zur Begrüßung ausgestreckter Hand den Flur herunter. Sie läuft zügig. „Ich bin eben so ein dynamischer Drauflosstürmer“, sagt die 52-Jährige. Obwohl Tito eine Freundin des gesunden Menschenverstands ist, zerdenkt sie die Dinge nicht, bis sie vorbei sind. Sie ergreift Chancen, wenn sie da sind. Vielleicht ist es genau dieser Art geschuldet, dass Titos Leben einen Lauf genommen hat, der ihr nicht gerade vorbestimmt war. „An meiner Biografie kann man sehen, was alles möglich ist“, sagt die Leiterin des Programms „Seitenwechsel“, bei dem Führungskräfte als Praktikanten in soziale Einrichtungen gehen, um einen neuen Blick auf benachteiligte Menschen, die Arbeit der Einrichtungen, aber auch sich selbst zu bekommen. 1200 Entscheider haben bundesweit bisher an dieser Form der Persönlichkeitsentwicklung teilgenommen.

Tito wuchs dort auf, wo „man morgens schon sieht, wer am Nachmittag zum Kaffee kommt“: Marne, Kreis Dithmarschen. Die Eltern waren beide ungelernte Arbeiter. Geldsorgen waren keine Seltenheit, obwohl die Eltern auch oft am Wochenende arbeiteten. Sie passte dann als Älteste auf ihre vier Geschwister auf und lernte, Verantwortung zu übernehmen. „Ich finde nicht, dass mir meine Herkunft geschadet hat“, sagt Tito, die sich als typisches Arbeiterkind bezeichnet. „Dadurch habe ich etwas sehr Zupackendes und komme gut durchs Leben.“ Dennoch sehnte sie sich bereits als Grundschülerin nach einem anderen Leben: „Mein Antrieb war – unbewusst – dass ich wollte, dass es mir besser geht als meinen Eltern.“ Diesen Satz meint Tito in keiner Weise abschätzig gegenüber dem Leben von Vater und Mutter. Immer wieder fallen im Gespräch mit ihr die Worte Glück, Chance und Dankbarkeit. Tito weiß, dass das Leben den Menschen nicht immer das gibt, was sie verdient hätten.

Sie wechselte auf die Realschule, ging zum Schüleraustausch nach England – das erste Mal Ausland. Das kannte Doris Tito bis dahin nicht. Sie selbst, ihre Leistung, war es, die ihr die Tür in die weite Welt öffnete. Nach dem Abschluss wollte sie eigentlich als Au-pair-Mädchen nach Frankreich oder England gehen, aber ihre Eltern hatten dafür kein Verständnis. Also begann die 16-Jährige eine kaufmännische Lehre. Der Traum vom Leben im Ausland ließ Tito aber nicht los, und so beschloss sie nach der Ausbildung, ihn Realität werden zu lassen.

Ein paar Monate später stand Tito mit einem Koffer und den Resten ihres Schulfranzösisch vor dem Gare du Nord in Paris. Zweifel hatte sie dennoch nicht. „Ich bin da einfach drauflosmarschiert“, sagt sie. Mit großen Augen für die Stadt und großen Ohren für die Menschen lief sie durch Paris, erkundete die Museen und Straßen. Was blieb von diesem geografischen Seitenwechsel, ist eine Aufgeschlossenheit gegenüber fremden Welten.

„Mädchen, was machst du jetzt? Du kannst mehr.“ Diese Sätze schrieb ein früherer Lehrer Tito kurz vor Ende ihrer Au-pair-Zeit. Rückblickend ist Tito sehr dankbar dafür, dass es immer Menschen gab, die sie gefördert haben. Im Dezember 1980 beschloss sie, ihr Abitur zu machen. Wieder eine Entscheidung, die ihre Familie nicht nachvollziehen konnte: „Jetzt kannst du endlich Geld verdienen. Warum willst du denn noch mal zur Schule?“ Also musste Tito diesen Weg allein bestreiten. „Das soll aber keine Jammer-Geschichte werden“, sagt sie. Dank BAföG sei sie immer gut über die Runden gekommen. „Dafür bin ich wirklich sehr dankbar, denn das hat mir meine Unabhängigkeit bewahrt.“

Nach dem Abitur begann sie 1984 ein Studium in Europäischer Betriebswirtschaftslehre. 1000 Abiturienten hatten sich beworben, 60 wurden genommen. Das Wort „Elite“ fiel oft in dieser Zeit. Zwei Jahre an einer Privatschule in Reims, der Champagner-Stadt Frankreichs, waren Teil des Studiums. Für einige von Titos Kommilitonen war es selbstverständlich, dass sie sich fast immer das Luxusgetränk gönnten – schließlich hielt man sich ja für die Elite. „Was für ein Schwachsinn“, sagt Tito. „Wir hatten in Wirklichkeit doch noch gar nichts vollbracht.“ Bis heute macht sie sich nichts aus Titeln und Funktionen. „Mich interessiert immer nur der Mensch dahinter.“

Dementsprechend geht sie heute auch mit den Seitenwechslern um. So sagt sie Führungskräften von Airbus, Beiersdorf und Vattenfall in den Vorbereitungsgesprächen ganz klar, dass sie sich in der Behinderteneinrichtung, dem Gefängnis oder dem Hospiz, wo sie eine Woche mitarbeiten, einordnen müssen.

Während eines Praktikums in Hamburg verliebte sich Tito in die Stadt und trat dort 1991 eine Stelle als Produktmanagerin an. Aber nach gut zweieinhalb Jahren sehnte sie sich nach Neuem und kündigte. Nach zwei Monaten als Freiberuflerin las sie einen Artikel im Abendblatt über ein Obdachlosenzeitungs-Projekt, das ein paar Tage später starten sollte. „Hinz & Kunzt“. Tito hatte schon immer einen Hang zu sozialen Themen, auch wegen ihrer Herkunft. „Ich fing sofort Feuer für die Idee, rief an und fragte, ob sie eine ehrenamtliche Betriebswirtin gebrauchen könnten.“ Konnten sie. Tito vollzog den Seitenwechsel aus der Wirtschaft ins Soziale. Dass es für ihre Arbeit vorerst kein Geld geben würde, interessierte sie nicht. Klar wäre das nicht für immer möglich gewesen, aber es ist auch nicht ihre Art, Besitztümer anzusammeln. „Wohlstand bedeutet für mich nicht, dass ich einen Mercedes und ein großes Haus habe, sondern die Unabhängigkeit, das zu machen, was mich erfüllt.“ Sie will etwas bewegen. „Hinz & Kunzt“ lief gut, und bald bekam Tito einen Arbeitsvertrag und ein festes Gehalt. Sie wurde Geschäftsführerin. 1997 kam ihre Tochter zur Welt. Den Mann dazu hatte sie zwei Jahre zuvor kennengelernt. Tito erinnert sich noch gut an eine Szene während ihrer Schwangerschaft. Eines Tages kam ein junges Paar mit einem Säugling in den Aufenthaltsraum von „Hinz & Kunzt“. „Das hat mich sehr berührt.“ Sie habe in den sechs Jahren bei der Zeitung ohnehin viele Erfahrungen gemacht und viel gelernt – dass eine gute Mischung aus Empathie und Konsequenz die beste Hilfe, Klartext die beste Sprache und Offenheit allen Menschen gegenüber die beste Haltung ist.

Um die Jahrtausendwende, die Patriotische Gesellschaft war inzwischen neben der Diakonie der zweite Gesellschafter von „Hinz & Kunzt“, hörte Tito von Seitenwechsel. Sie fand die Idee so gut, dass sie sich beim Träger, der Patriotischen Gesellschaft, als Programmleiterin bewarb. Sie bekam den Job. „Mein Standardspruch ist immer: Linkes Bein Unternehmen, rechtes Bein eine soziale Institution. Das erdet mich.“

Tito hat den Ruf einer durchstrukturierten Powerfrau. Dabei gibt es noch ganz andere Seiten an ihr. Sie kann sich auch gehen lassen. Besonders gerne sonnabends, wenn sie mit einem Buch und Tee im Bett herumlungert, bis die Tochter wach ist und die beiden in Pyjamas frühstücken. „Meine Tochter ist das Wichtigste in meinem Leben“, sagt sie. Mit ihrem Mann ist sie seit drei Jahren auseinander. „Ich habe mich gut getrennt“, sagt sie. „Das war mir wichtig.“ Und auch tough ist Tito nicht immer. „Ich grüble manchmal vor mich hin. Es gibt noch immer Dinge in unserer Gesellschaft, die mich erschüttern. Und das ist auch gut so.“ Dennoch: Das Dynamische überwiegt.