Ex-Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU) wird 70. Im Abendblatt wirbt er für Schwarz-Rot, wenngleich ein Bündnis mit den Grünen Charme habe. Und: Hamburg müsse weiter wachsen, fordert er.

Hamburg. An diesem Montag begeht Wolfgang Peiner im kleinen Familienkreis seinen 70. Geburtstag. Eine große Feier, sagt er, solle es erst wieder zum 75. geben, wenn er sich endgültig aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen habe. Das Abendblatt sprach mit Peiner über aktuelle Themen und seine Zeit als Finanzsenator.

Hamburger Abendblatt: Sie werden am Montag 70 Jahre alt – rechnen Sie mit einem Anruf von Angela Merkel? Oder schickt sie in solchen Fällen eine Glückwunsch-SMS?

Wolfgang Peiner: Das glaube ich nicht, das ist nicht üblich. Außerdem hat sie im Moment andere Aufgaben zu lösen, die für das Land wichtiger sind.

Wenn die Kanzlerin Sie als langjährigen Bundesschatzmeister der CDU nach einem Rat für die Verhandlungen fragen würde, welchen würden Sie geben?

Peiner: Aus reiner Parteisicht, das gilt für die CDU wie für die Grünen, wäre sicher eine schwarz-grüne Koalition erwägenswert, weil beide Parteien sich damit eine neue Option erschließen könnten.

Wäre das auch für Deutschland gut?

Peiner: Wenn ich die Interessen des Landes sehe, stehen wir vor so großen Herausforderungen – Stichworte Energiewende, Föderalismusreform, Haushaltssanierung –, dass sie wohl am besten von einer Großen Koalition gemeistert werden könnten.

Angela Merkel hat der Hamburger CDU um Ole von Beust 2008 ja durchaus zu Schwarz-Grün geraten. Taugt dieses Bündnis als Vorbild für Deutschland?

Peiner: Hamburg war ein gutes Feld, Schwarz-Grün zu testen, und Ole von Beust eine ideale Figur aus Sicht der CDU dafür. Diese Zeit hat aber auch die Schwierigkeiten verdeutlicht: Die Grünen sind sehr stark von ihrer Basis abhängig – und das sind vor allem Doppelverdiener, beide im öffentlichen Dienst, die gern innenstadtnah in verkehrsberuhigten Zonen wohnen. Diese Gruppe ist aber nicht repräsentativ für die Bevölkerung in Deutschland. Und insofern hat Hamburg auch gezeigt, dass man in einer Regierung mit den Grünen bei großen Projekten schnell an Grenzen stößt.

Fremdelt die CDU mit Doppelverdienern, die gern verkehrsberuhigt wohnen?

Peiner: Nein. Das ist aber nur eine Zielgruppe. Eine Volkspartei muss ein breiteres Spektrum abdecken. Und das wäre mit der SPD durch ihren Gewerkschaftshintergrund als Partner eher der Fall.

Was muss die CDU der SPD geben, damit Steuererhöhungen ausgeschlossen werden?

Peiner: Die CDU muss ihr Programm durchsetzen. Ich sehe für Steuererhöhungen keine Notwendigkeit. Wir haben die höchste Steuerquote aller Zeiten – 23 Prozent des Bruttosozialprodukts fließen dem Staat zu. Zu meiner Zeit als Finanzsenator hatten wir um die 20 Prozent und haben den Haushalt dennoch innerhalb von fünf Jahren ausgeglichen.

Die Anforderungen an den Staat sind aber auch gewachsen. Er stellt mehr Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung, die Schulklassen werden zumindest in Hamburg kleiner, die Energiewende muss geschultert werden.

Peiner: Die Anforderungen an den Staat werden immer größer sein als die Mittel, die er zur Verfügung hat. Aber genau das ist Kernaufgabe der Politik: Prioritäten zu setzen und zu gestalten. Wenn man die Kinderbetreuung ausbaut, muss man zum Beispiel Studiengebühren einführen. Der Staat kann nicht für jede Altersgruppe alles umsonst bieten.

In einer Großen Koalition im Bund würde Scholz als SPD-Vize zumindest im Hintergrund eine tragende Rolle spielen. Inwiefern könnte Hamburg davon profitieren?

Peiner: Es könnte stark profitieren. Eine Schlüsselaufgabe Hamburgs liegt in der Infrastruktur, und zwar als Knotenpunkt für die Verkehrsströme von Ost- nach Westeuropa und von Skandinavien nach Südeuropa. Eine starke Persönlichkeit, die in der SPD und in einer möglichen großen Koalition gut verankert ist, könnte viel für Hamburg bewirken. Dafür wäre Olaf Scholz eine gute Besetzung.

Ist das auch Selbstkritik? Denn auch nach zehn Jahren CDU-Regierung ist Hamburg geradezu umzingelt von Infrastrukturproblemen: Die Schleusen am Nord-Ostsee-Kanal sind völlig marode, die A7-Brücke über den Kanal ist teilweise gesperrt, die A26 und die Hafenquerspange kommen nicht voran, und die Y-Trasse für die Bahn ist in weite Ferne gerückt.

Peiner: Ja, ich habe schon damals gesagt, dass die Stadt ihren Einfluss in Berlin deutlich erhöhen muss. Ich glaube, dass der SPD-Senat das erkannt hat.

Hamburg muss jetzt ja an anderer Stelle kräftig investieren – in den Rückkauf der Energienetze. Wie bewerten Sie das Ergebnis des Volksentscheids?

Peiner: Ich halte die Entscheidung für falsch. Die Bürger äußern damit eine Erwartung, die der Staat nicht erfüllen kann. Er kann entweder ein Gewährleistungsstaat sein, der sicherstellt, dass wichtige Funktionen erfüllt werden, zum Beispiel sichere Arbeitsplätze, gute Krankenhäuser und Altersheime, eine funktionierende Infrastruktur. Oder will er ein Durchführungsstaat sein, der alle diese Dinge selbst macht. Damit ist er aber überfordert.

Hat Sie das Ergebnis überrascht?

Peiner: Nein. Nach dem Volksbegehren zur Privatisierung der Krankenhäuser 2004 war mir klar, dass es einen latenten Volkswillen nach einem möglichst starken Staat gibt. Offenbar gibt es diese Sehnsucht immer noch. Für mich ist es aber ein ungelöster Widerspruch, dass dieselben Menschen, die sagen, sie hätten kein Vertrauen in Politiker und kein Vertrauen in Parteien, gleichzeitig ein unbegrenztes Vertrauen in den Staat haben, obwohl dieser Staat von eben diesen Politikern gestaltet wird.

Offensichtlich fühlt sich die Mehrheit der Deutschen in und mit diesem Staat ganz wohl.

Peiner: Ja, aber kaum ein Bürger will ihm freiwillig die nötigen Mittel über Steuern und Abgaben zur Verfügung stellen, damit er der großen Erwartungshaltung gerecht werden kann. Das ist eine ordnungspolitische Frage, und für mich ist klar: Der Staat kann und sollte nicht alles machen.

In einer großen Umfrage des Abendblatts haben sich knapp 80 Prozent der Leser gegen das weitere Wachstum Hamburgs ausgesprochen. Quasi ein kleiner Volksentscheid. Was sagt der Erfinder des Konzepts „Wachsende Stadt“ dazu?

Peiner: Es lag wie bei dem Netze-Volksentscheid an der gelenkten Fragestellung. Hier lautete sie: Muss die Einwohnerzahl Hamburgs unbedingt weiter wachsen? Da ist die Antwort natürlich nein. Hätte man die Menschen gefragt, ob sie wollen, dass sie auch in Zukunft einen Arbeitsplatz haben, dass auch ihre Kinder in Hamburg eine Perspektive bekommen, dass es attraktive Ausbildungsplätze gibt, hätten 80 Prozent mit Begeisterung ja gesagt. Aufgabe der Politik ist es, diese Begeisterung positiv zu lenken. Da mache ich mir Sorgen.

Warum?

Peiner: Drei aktuelle Anlässe: Erstens hat Berlin Hamburg als Gründerhochburg abgehängt, zweitens stagniert Hamburg nach Jahren des Aufstiegs in Sachen Attraktivität und liegt deutlich hinter München, Stuttgart und Frankfurt. Und wenn ich drittens in der „Zeit“ über „Hamburg – das Tor zur Provinz“ lese, dann muss Hamburg wesentlich mehr tun, wenn die Stadt im Vergleich der Metropolen nicht weiter zurückfallen will.

Man könnte doch ebenso gut anführen, dass Hamburg als so attraktiv gilt, dass der starke Zuzug die Mieten hochtreibt, dass die Touristenzahlen hier stärker steigen als in jeder anderen deutschen Großstadt und ...

Peiner: Ja, aber fast nur im innerdeutschen Tourismus. Es fehlen zahlungskräftige Besucher aus dem Ausland. Das ist aber im internationalen Vergleich entscheidend. Und die Mieten sind immer noch deutlich niedriger als in München und Stuttgart. Ich bleibe dabei: Hamburg braucht wieder einen Aufbruch.

Ich wollte noch anführen, dass Hamburg sich gerade mit dem Bau der Elbphilharmonie auf die internationale Tourismuslandkarte hebt. Außerdem setzt Bürgermeister Scholz doch auch bewusst auf das aus den USA entlehnte Prinzip „Big City“, er nennt das nur nicht „Wachsende Stadt“.

Peiner: Ich habe mir seine Rede sehr genau angehört. Er hat einen anderen Ansatz. Er beschäftigt sich mehr mit der Frage, wie die Stadt Wachstum – von dem er ausgeht, das es ohnehin kommt – umsetzen muss. Meine Frage ist eine andere: Wie generiere ich Wachstum? Wovon will Hamburg in den nächsten 40, 50 Jahren leben? Können wir die Stadt ausschließlich auf die Existenz des Hafens bauen, obwohl wir sehen, dass der Schifffahrtsstandort Hamburg gefährdet ist? Müssen wir nicht wie früher Boston, Kopenhagen, New York und London von der einseitigen Orientierung auf den Hafen lösen?

Was wäre Ihre Antwort?

Peiner: Wir müssen Hamburg auf breitere Füße stellen und uns auch anderen Feldern zuwenden. Wir müssen die Clusterpolitik, also etwa das Herausbilden von Schwerpunkten in den Bereichen Luftfahrt und Medizintechnik, weiterentwickeln. Und wir müssen die Universitäten erheblich stärken. Wachstum darf sich nicht nur auf Quantität beziehen, sondern vor allem auf Qualität. Dabei geht es auch um die traditionellen Qualitäten unserer Stadt wie Grünflächen, die Lage am Wasser und das Kulturangebot.

Kann Hamburg zwei Millionen Einwohner vertragen? 65 Prozent der Abendblatt-Leser haben das verneint.

Peiner: Die Stadt kann weit mehr als zwei Millionen Einwohner verkraften. Hamburg ist die am dünnsten besiedelte Großstadt in ganz Europa. Wir haben große Bereiche, in denen noch Wachstum stattfinden kann, zum Beispiel in Rothenburgsort, Wilhelmsburg oder das Bahngebiet in Altona. Außerdem stehen entlang der meisten Ausfallstraßen nur viergeschossige Wohnhäuser, während in fast allen anderen Metropolen fünf bis sechs Etagen üblich sind.

Viele Menschen werden sich bedanken, wenn sie in die sechste Etage an einer Großstraße ziehen sollen.

Peiner: Interessanterweise sind aber gerade einige der beliebtesten Viertel der Stadt – Eppendorf, Eimsbüttel, Ottensen – die am höchsten verdichteten. Dort sind sechs Etagen üblich. Wohnqualität und Verdichtung schließen sich überhaupt nicht aus.

Für „Wachstum“ im ungeordneten Sinn sorgen derzeit Flüchtlinge, die über Italien oder die Bürgerkriegsgebiete in Syrien nach Hamburg kommen. Wie sollte die Stadt damit umgehen?

Peiner: Hamburg hat sein Wachstum seit Jahrhunderten Zuwanderung zu verdanken. Die Stadt sollte daher viel offener sein gegenüber Zuwanderern. Das Tor zur Welt muss in beide Richtungen offen sein. Wir beklagen heute immer noch bitterlich, dass die Schweiz im Dritten Reich nur begrenzt bereit war, jüdische Mitbürger aufzunehmen, die über die Grenze drängten. Und gleichzeitig lehnen wir in der EU Menschen von außen ab. Ich glaube, da muss man ein großes Herz haben. Hamburg kann mehr Zuwanderung vertragen.