Der Reemtsma-Entführer kommt nach 15 Jahren aus dem Gefängnis. Seine Gutachter haben kaum Zweifel, dass er rückfällig wird. Ein Rätsel bleibt, warum Drachs Leben derart aus den Fugen geraten ist.

Hamburg. Es gilt als sicher, dass Thomas Drach auch nach seiner Entlassung aus der JVA Billwerder auf dem Radar der Fahnder bleiben wird. Denn die Ermittler halten den Schwerverbrecher weiterhin für „brandgefährlich“. Und dann sind da noch die umgerechnet mehr als 15 Millionen Euro Lösegeld aus der Entführung des Hamburger Tabakerben Jan Philipp Reemtsma. Zu deren Verbleib hat Drach bisher beharrlich geschwiegen.

Brandgefährlich – diesen Eindruck hat Drach nur bestätigt, als er sich zuletzt im November 2011 vor dem Landgericht verantworten musste. Der 53-Jährige, der in dem Prozess praktisch nach allen Seiten hin austeilte, wirkte aufbrausend, hitzköpfig, beleidigend. Schon kurz vor Prozessbeginn mussten Justizbeamte Tiraden über sich ergehen lassen. Grund: Drach war schwer genervt, dass er während des Transports zum Gerichtssaal eine Schlafbrille tragen sollte, weil er den Fahrtweg nicht sehen sollte. Danach polterte er los: „Ich werde nächstes Jahr einen Beamten bestrafen für die Sache mit der Brille. Ich besorge mir eine Kalaschnikow, Kaliber 5,6. Geht glatt durch.“

Die Episode ist nur ein Beispiel für das hitzige Temperament des 53-Jährigen. Es war bei Weitem nicht sein einziger verbaler Ausfall in diesem Prozess, den Drach in seinem typisch rheinischen Akzent als „absurdes Theater“ verhöhnte. Vor allem hetzte er eins ums andere Mal gegen seinen Bruder Lutz Drach, der im April 2013 wegen Kokainschmuggels zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt worden war. Er hatte Lutz in einem aus dem Gefängnis abgefangenen Brief verdächtigt, die aus der Reemtsma-Entführung stammenden Lösegeldmillionen „zweckentfremdet“ zu haben.

Unter anderem hieß es in dem Schreiben, sein Knastkumpel Hans-Jürgen M. solle seinen damals noch in der JVA Rheinbach inhaftierten Bruder in Begleitung von „muskulösen Spaniern“ am Entlassungstag abholen: Lutz schulde ihm 30 Millionen Euro „Schmerzensgeld“. „Fehlt ein Euro, mache ich die Ratte platt“, hieß es weiter.

Angeklagt wegen „versuchter Anstiftung zur räuberischen Erpressung“ verurteilte ihn das Landgericht – kurz vor seiner geplanten Entlassung im November 2011 – zu weiteren 15 Monaten Haft. Zu verbüßen im Anschluss an die 14 Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe, die ihm das Gericht für die Reemtsma-Entführung aufgebrummt hatte. Deshalb kommt Drach erst im Laufe des Oktobers frei. Das Gericht ordnete 2011 allerdings nicht, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, Sicherungsverwahrung an.

Drach hat fast die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Harte Strafen bewirkten praktisch nichts, Resozialisierungsangebote schlug er regelmäßig aus. „Ich habe mich selbst resozialisiert“, spottete er einmal im Gerichtssaal. Für den Lüneburger Sozialforscher Professor Bernd Maelicke ein Indiz, „dass im Fall von Drach die Resozialisierung an ihre Grenzen stößt“.

Ein Rätsel bleibt jedoch, warum Drachs Leben derart aus den Fugen geraten ist. Er wuchs in einem soliden und bürgerlichen Viertel von Köln auf. Sein Vater war Buchhalter in leitender Position, die Mutter Sekretärin. Am 11.Juni 1960 kommt Thomas zur Welt, ein Jahr darauf Lutz. Als Kind schwärmt Drach wie die meisten Jungs für schnelle Autos und träumt von einer Karriere als Rennfahrer. Weil er über eine rasche Auffassungsgabe verfügt, schicken ihn die Eltern aufs Gymnasium. Er schafft es aber nur bis zur neunten Klasse, geht danach auf die Hauptschule ab: Der Junge hängt lieber herum, als die Schulbank zu drücken. Und seine nachgiebigen Eltern lassen ihn gewähren.

Seine Mutter Helga Drach, 75, hat zuletzt vor dem Landgericht öffentlich über ihren Sohn gesprochen. „Thomas ist niemand, vor dem man Angst haben muss, eigentlich ist er ganz ungefährlich.“ Er sei als Kind „brav und ziemlich unauffällig“ gewesen. Nur habe „es“ leider irgendwann angefangen.

Mit 13 knackt Drach Autos, mit 17 bricht er auf Bestellung Nobelkarossen auf, um sich ein „flottes Leben“ leisten zu können. Drach stürzt ab, nimmt Drogen: LSD und Haschisch. Schmeißt Jobs als Lagerarbeiter und Lkw-Fahrer. Im Alter von 18 Jahren kassiert er für das Autoknacken seine erste (Jugend-)Strafe: ein Jahr auf Bewährung. Anfang 1981 spricht ihn das Gericht schuldig, einen Freund zum Überfall auf einen Geldtransporter regelrecht genötigt zu haben – 27 Monate Jugendstrafe. Während eines Hafturlaubs nur wenige Monate darauf verabredet Drach mit einem Mithäftling einen kuriosen Banküberfall: Mit einem gestohlenen Auto rasen sie durch die Glastür einer Sparkassen-Filiale bis direkt vor den Tresen.

Ein Gerichtspsychiater hat über den jungen Drach Ähnliches berichtet wie Norbert Leygraf, der den reifen Drach vor zwei Jahren begutachtet hat: Er sei trotz guter sozialer Ausgangslage und intellektueller Begabung auf die schiefe Bahn geraten, nehme keine Rücksicht auf die Rechte anderer, trachte einzig nach einem Leben in Saus und Braus. So sah es auch Leygraf: „Es ist davon auszugehen“, sagte der Gutachter vor zwei Jahren, „dass er in Freiheit weitere schwere Straftaten begehen wird.“ Neben der mangelnden Einsichtsfähigkeit in das von ihm begangene Unrecht sei der „pubertär-unreife“ Angeklagte zu sehr auf einen „gehobenen Lebensstil“ fixiert. Und zu alt wiederum, um mit einer legalen Tätigkeit auch nur halbwegs den angestrebten Standard zu erreichen.

Schon in jungen Jahren hat es Drach auf Spaß, teure Autos und schöne Frauen abgesehen. Vor allem rassige Sportwagen haben es ihm angetan. Briefe unterschreibt Drach mit „Rock ’n’ Roll, Thomas“, er gefällt sich in der Pose des Rebellen. Ein Rebell indes ohne Ideen, ohne Visionen, angetrieben einzig von der Gier nach Geld und Geltung. Die unglamouröse, bürgerliche Welt seiner Eltern mit ihren Vorgärten und Bausparverträgen, das alles ist ihm fremd. Drach strebt nach Höherem. Nach seiner Entlassung stromert er durch aller Herren Länder, an die 40 sollen es gewesen sein, zeitweise lebt er in den USA und Australien. In Ungarn versucht er es sogar mit ehrlicher Arbeit: Er führt einen Autohandel, gibt aber nach wenigen Monaten auf.

Zurück in Deutschland nimmt er Kontakt zur Unterwelt auf. Er trifft auf Wolfgang K., einen glücklosen Ganoven aus Köln, und auf Peter F., einen abgehalfterten Handelsvertreter. Drach braucht dringend Geld. Einer der Ganoven liest im Mai 1995 ein Interview mit Reemtsma, darin steht auch, dass dieser nach dem Verkauf seiner Anteile an der Reemtsma Cigaretten GmbH über ein Vermögen von 300 Millionen Mark verfügt. Und auf Personenschützer verzichtet. Aus Sicht der Täter wird Reemtsma zum idealen Opfer.

Am 21.März 1996 schlägt die Bande Reemtsma vor seiner Villa in Blankenese nieder und hinterlässt einen mit einer scharfen Handgranate beschwerten Brief. Die Entführer verschleppen den Multimillionär nach Garlstedt in der Nähe von Bremen und ketten ihn im Keller eines Hauses an. Erst am 26.April, nach zwei gescheiterten Geldübergaben, kommt Reemtsma frei. Die Bande erbeutet 30 Millionen Mark Lösegeld, aufgeteilt in Schweizer Franken und Deutsche Mark, umgerechnet rund 15,3 Millionen Euro. Die Summe ermöglicht Drach ein Luxusleben unter der Sonne Argentiniens. Er fährt Jet-Ski und einen schweren Mercedes, leistet sich ein Haus in Uruguay und Prostituierte. Und freut sich diebisch, dass seine Häscher ihm nicht auf die Schliche gekommen sind. Es ist ein Leben der großen Posen, ganz nach Drachs Geschmack. Für die Kölner Unterwelt wird er zum „Superhirn“. Doch dann begeht Drach einen folgenschweren Fehler. Er werde ein Rolling-Stones-Konzert besuchen, berichtet er seinem Bruder am Telefon, das überwacht wird. Am 28.März 1998 nehmen Polizisten den Entführer, selig schlummernd, in einem Hotel in Buenos Aires fest.

Zwei Jahre befindet er sich in argentinischer Auslieferungshaft, von Dezember 2001 an steht er vor dem Hamburger Landgericht. Da tritt er auf wie im letzten Verfahren: kodderschnäuzig, anmaßend, aufbrausend. Wer auch nur taktisch bedingte Reue erwartete, wird eines Schlechteren belehrt. „Wir haben Herrn Reemtsma alles Lebensnotwendige gelassen, ich hatte nicht mal Toilettenpapier“, beklagt er sich einmal.

In dem Prozess 2011 hat Drach den Eindruck vermittelt, dass er glaubt, sich einen Anspruch auf das Lösegeld durch die lange Haftdauer praktisch ersessen zu haben. Dass er die Pfründe seiner Straftat ernten darf, ist natürlich Unfug. „Wenn er die Millionen hebt, beschlagnahmen wir sie“, sagt ein Ermittler hinter vorgehaltener Hand. Aber zumindest strafrechtlich könnte er wohl nicht belangt werden, da er bereits wegen der Erpressung des Lösegeldes rechtskräftig verurteilt worden ist.

Doch wo sind die Millionen? In Uruguay, in Spanien? Ist es gar schon komplett verbraucht, wie Drach zaghaft andeutete? Noch während er in argentinischer Auslieferungshaft saß, hatte Reemtsma die Wiesbadener Sicherheitsfirma ESPO mit der Suche nach dem Geld beauftragt. Eine Million Euro soll bisher aufgetaucht sein. ESPO war für eine Stellungnahme am Donnerstag nicht zu erreichen.

Im Gefängnis soll Drach überall Verrat und Spitzelei gewittert haben. Das ging so weit, dass er Einzelhaft beantragte. Eine Justizbeamtin berichtete von Selbstgesprächen und jähen Wutattacken. Mal passten ihm kleinste Veränderungen im Tagesablauf nicht, mal verweigerte er eine Speichelprobe zur DNA-Archivierung oder leistete Widerstand, weil ein Arzt ihm ein „Abnehmpräparat“ nicht verschreiben wollte.

Wie es für Thomas Drach weitergeht? Wenn sich für ihn die Pforten der JVA Billwerder öffnen, erhält er einmalig 1800 Euro Überbrückungsgeld. Wie das Abendblatt aus Justizkreisen erfuhr, hat er während seiner gesamten Zeit hinter Gittern nicht einmal gearbeitet, hat also nichts angespart. Möglicherweise muss der Lösegeld-Millionär erst einmal Hartz IV beantragen.