Der Kapitän eines Hamburger Frachters nimmt 63 syrische Flüchtlinge an Bord, die tagelang ohne Lebensmittel und Sprit auf dem Mittelmeer trieben

Hamburg/Capo Passero. Zuerst sieht Kapitän Hans Georg Voskamp einen hellen Punkt in der Ferne. Die Nacht ist sternenklar. Über dem Container-Frachter „Santa Balbina" schwebt ein Helikopter. Voskamp hört die Rotorengeräusche, sieht die Positionslichter. Um kurz vor Mitternacht hat ihn die italienische Küstenwache informiert: Ein Schiff mit sehr vielen Menschen, vermutlich Flüchtlingen, an Bord, befindet sich in Seenot. Zehn Seemeilen voraus.

Um sich zu vergewissern, was jetzt vor dem Frachter der Hamburger Reederei Claus-Peter Offen schwimmt, schaut Voskamp durch einen Feldstecher. „Und da war das Boot und darauf Menschen über Menschen.“ Voskamp, 63, ordnet „volle Kraft voraus“ an und aktiviert das Standard-Protokoll bei Rettungseinsätzen: Anton Tambovtsev, erster Offizier, übernimmt das Kommando an Deck, während der zweite Offizier Kapitän Voskamp unterstützt. Und der hat seit der ersten Meldung über die Flüchtlinge in Seenot ständig Kontakt zum italienischen MRCC (Maritime Rescue Coordination Center).

Voskamp ist am 3. Oktober, wie jetzt bekannt wurde, auf der „Santa Balbina“ mit 21 Crewmitgliedern von Aliaga (Türkei) nach Malta unterwegs. Es ist die Route der Afrika-Flüchtlinge. Immer wieder machen sich Schiffe auf den Weg nach Italien – mit Heimatlosen und Hoffnungen überladen. Vielen gilt das Land als Tor nach Europa. Skrupellose Schleuser verdienen ein Vermögen mit diesem Elend.

Und immer wieder geraten sie mit maroden Booten in Seenot oder kentern. Das Sterben im Mittelmeer gehört zur Tagesordnung; allein 2011 kamen innerhalb der Seegrenzen 2000 Flüchtlinge ums Leben. Den vorläufigen Höhepunkt des Horrors vor der italienischen Küste markiert die Flüchtlingstragödie bei Lampedusa. Bisher sind 270 Leichen geborgen worden, Menschen auf der Flucht in ein vermeintlich besseres Leben.

35°, 59’ Nord, 17° 50’ Ost. Rund 130 Seemeilen südöstlich der sizilianischen Hafenstadt Capo Passero erreicht die „Santa Balbina“ gegen 2Uhr nachts das Flüchtlingsschiff, das sich in einem erbärmlichen Zustand befindet: ein klappriges Fischerboot mit verwitterten Plastikbeschlägen und Rost überall.

Die Menschen an Bord kommen aus Syrien, sie stehen dicht an dicht, ein paar Kinder weinen. „Sie hatten den Schrecken im Gesicht, das blanke Entsetzen“, sagt Voskamp, den das Abendblatt auf der Fahrt nach Casablanca am Mittwoch per Telefon erreicht. Doch das schrottreife Fischerboot macht nicht an seinem Frachter fest – obwohl die Menschen mit ihren Kräften am Ende sind. Im Gegenteil: Als sie hören, dass nicht Italien, sondern Malta das Ziel der „Santa Balbina“ ist, versuchen die Flüchtlinge noch mehr Abstand zum Frachter zu gewinnen.

Dass die Menschen nicht gerettet werden wollen, hat Voskamp nachdenklich gemacht. Afrikanische Flüchtlinge wollen nach Italien und nur dorthin. Weil für sie Europa in Italien anfängt. Und nur Europa ein besseres Leben verheißt. Ein Leben ohne Krieg, weniger entbehrungsreich, weniger gefährlich.

Erst als Kapitän Voskamp mit den italienischen Behörden telefoniert und den Flüchtlingen garantieren kann, dass sie nach Italien und nur nach Italien gebracht werden, kommen die entkräfteten Menschen an Bord der „Santa Balbina“. 39 Männer, acht Frauen und 16 Kinder. Die älteste Frau ist knapp über 70, das jüngste Kind erst sechs Monate alt. Eine ältere Dame ist durch die Strapazen der Fahrt derart geschwächt, dass sie von einem Freund gestützt werden muss. Viel Gepäck haben die Menschen nicht dabei, die meisten tragen nur einen Mini-Rucksack auf dem Rücken – es ist das, was von ihrem Besitz noch übrig ist. Alles andere, so erzählen es die Menschen später, sei für das „Ticket“ nach Italien draufgegangen.

Für die Flüchtlinge lässt Voskamp die Sporthalle und das sogenannte Suez-Hotel, wo normalerweise nur zeitweise auf dem Schiff tätige Hilfsarbeiter untergebracht sind, frei räumen. Nach Tagen knappster Rationen bekommen sie endlich etwas zu essen: Suppe, Toastbrot, Sandwiches, Eier. Dann erzählen sie der Crew ihre Geschichte.

Sie erzählen von ihrer Reise nach Alexandria (Ägypten), wo ihnen Schleuser 3000 US-Dollar für die Passage nach Italien abknöpften. Alle Flüchtlinge hatten dafür ihr Hab und Gut verkauft, teilweise verscherbelt. Die Menschenhändler hatten ihnen im Gegenzug ein modernes, großes Schiff versprochen – und ihnen dann einen fast kaputten Kahn vorgesetzt. Als sich einige Syrer trotz aller Verzweiflung weigerten an Bord zu gehen, standen die Schleuser mit Schusswaffen hinter ihnen und zwangen sie dazu. Die Kriminellen ließen ihnen nur etwas Proviant, Sprit und einen GPS-Empfänger mit fest programmierter Route nach Italien.

Südlich von Griechenland gerieten die Flüchtlinge in schlechtes Wetter, die Situation an Bord spitzte sich zu. Essen und Wasser gingen zur Neige. Und schließlich auch die Spritvorräte. Fast sieben Tage trieben die 63 Menschen übers Mittelmeer, bis die „Santa Balbina“ sie auflas. „Alle diese Menschen, die am Ende ihrer Kräfte und teilweise ernsthaft krank waren“, sagt Voskamp, „waren nur heilfroh, weg vom Giftgas, den Bomben und dem Terror zu sein.“

Für den 63-jährigen Kapitän ist es in den Stunden nach der Rettung überraschend, wie schnell sich die Kinder erholen, die lachend über Deck toben. Bei den Frauen sieht es anders aus: Sie bleiben misstrauisch, fürchten sich vor einer erzwungenen Rückkehr. Selbst als ein Rettungsboot mit der italienischen Flagge aufkreuzt, das die „Santa Balbina“ nahe Capo Passero trifft. Die Angst vor einer Rückkehr nach Syrien ist so groß, dass die 63 erst nach zähen Verhandlungen den Frachter verlassen. Über ihren Status muss Italien jetzt befinden – als Kriegsflüchtlinge haben sie aber gute Chancen auf ein Bleiberecht.

Voskamp fährt seit 44 Jahren zur See. Es ist nicht das erste Mal, dass er eine derartige Aktion geleitet hat. Vor einigen Jahren hat er vor Tanger die spanischen Behörden bei der Rettung von Flüchtlingen aus einem havarierten Gummiboot unterstützt. Seine Reederei fördert die Hilfe für Menschen in Not nach Kräften. „Diese Haltung wird von Reeder Claus-Peter Offen in vollem Umfang unterstützt. Unsere Kapitäne und Mannschaften erhalten nach einer Rettungsaktion schriftlich den Dank des Reeders ausgesprochen“, sagt ein Sprecher. Voskamp, Westfale mit friesischen Wurzeln, neigt selten zur Übertreibung, „Wir helfen allen Menschen, die in Seenot sind“, sagt der 63-Jährige ruhig am Telefon. „Ausnahmslos. Aber eines ist klar: So ein Elend muss man nicht jeden Tag sehen.“