Die Organisation Big Brothers Big Sisters, für die 200 Ehrenamtliche im Einsatz sind, hört auf. Der Hauptförderer, die Stuttgarter Benckiser Stiftung Zukunft, stellt die Unterstützung Ende 2014 ein.

Hamburg. Diplom-Volkswirt Michael Steinkamp ärgert sich. Seit drei Jahren betreut der 47-Jährige den zwölf Jahre alten Colin. Er fährt mit ihm Kanu, besucht mit ihm den Hamburger Dom, klettert auf Bäume und erklärt dem Heranwachsenden die Welt. Alles ehrenamtlich. Denn Steinkamp gehört zu den Mentoren der renommierten Organisation „Big Brothers Big Sisters“ Deutschland.

Die Trägerin der freien Jugendhilfe mit Sitz in Stuttgart fördert benachteiligte Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren in schwierigen Lebensverhältnissen. Auf der Internetseite wirbt das Projekt mit diesen Worten: „,Big Brothers Big Sisters‘ ist das weltweit erfolgreichste ehrenamtliche Mentoringprogramm zur individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen.“ Was Steinkamp in Rage bringt, ist jetzt eine Entscheidung der Stuttgarter Geschäftsführung. Sie bedeutet das komplette Aus für das gesamte Projekt.

Erst vor wenigen Wochen hatte die Organisation den mit 10.000 Euro dotierten Anerkennungspreis der HanseMerkur Krankenversicherung AG in Hamburg erhalten. Doch nun das. Wie es in einer Mail an die „lieben Mentorinnen und Mentoren“ heißt, die dem Abendblatt vorliegt, werde die „Benckiser Stiftung Zukunft“ als Hauptförderer ,Big Brothers Big Sisters‘ einstellen – und zwar Ende 2014. Stattdessen werde das als qualitativ besser evaluierte Programm „Balu und Du“ gefördert. Alle Regionalbüros würden deshalb geschlossen. In Hamburg sind davon zwei Mitarbeiter betroffen. „Jetzt wird über Nacht alles plattgemacht“, ärgert sich Mentor Steinkamp. Und fügt hinzu: „Wie soll ich das Colin beibringen?“

Diese Fragen werden sich auch die etwa 200 anderen ehrenamtlichen Mentoren in Hamburg stellen, die 200 Mädchen und Jungen aus sozial schwachen Familien regelmäßig betreuen. Und dafür bislang bestens durch die Organisation angeleitet und beraten wurden.

Auf Abendblatt-Anfrage bemühte sich Christoph Glaser, einer der beiden Geschäftsführer von „Big Brothers Big Sisters“, am Montag um Schadensbegrenzung. Immerhin würden die sogenannten Tandems aus Mentor und Jugendlicher „von uns bis Ende 2014 weiterbegleitet“. Es würde lediglich keine neuen Tandems mehr geschaffen. „Danach ist es denkbar, dass eine Nachfolgeorganisation die Betreuung übernimmt. Mentoren und Kinder, die auf einen Tandemplatz warten, können sich bei dem Programm ‚Balu und Du‘ in Hamburg bewerben“, empfiehlt er. Schließlich dürfe kein Kind verloren gehen. „Balu und Du“ ist ein ehrenamtliches Programm, das Kinder im Grundschulalter fördert. Die Kinder sollten – neben Familie und Schule – eine weitere Chance erhalten, sich ihren positiven Anlagen gemäß zu entwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, lauten die Grundlinien.

Nach Ansicht von Geschäftsführer Glaser habe dieses Programm „mehr Potenzial für Wachstum“. Außerdem sei es „dank seiner wissenschaftlichen Verankerung besser evaluiert als „Big Brothers and Sisters“. Nach der Schließung von regionalen Büros erfolge die Betreuung der Tandems bis Ende 2014 durch die Mentoringberater von Big Brothers in Stuttgart.

Was bei den Hamburger Unterstützern für besondere Empörung sorgt, ist das plötzliche Aus für ein offenbar sehr erfolgreiches Mentorenprogramm. Erst im Juni wurde das Kinderprojekt mit dem Hansemerkur-Preis für Kinderschutz ausgezeichnet. „Bei uns erleben viele Kinder erstmals Erwachsene, die ein verlässlicher Ansprechpartner sind“, sagte Tina Klapproth, Leiterin der Hamburger Regionalgruppe, nach der Ehrung. Die Kinder hätten zu 80 Prozent alleinerziehende Mütter, kommen oft aus bildungsfernen Familien. 80 Prozent haben Migrationshintergrund. Ihre Mentoren seien „Rollenvorbilder“ und „Mutmacher“. Wie Michael Steinkamp, der Colin wichtige Werte wie Verantwortung vermitteln will. Oder Jan Hoff, der sich um seinen Schützling Paul kümmert und mit ihm viel unternimmt.

„Ich bin über den abrupten Ausstieg schockiert“, sagte Hans-Gerhard Wilkens, Chef der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei HanseMerkur, dem Abendblatt. Das vorzeitige Ende werde viele Kinder und Jugendliche hart treffen. „Ich kann diesen Schritt nicht nachvollziehen, weil das Projekt in Hamburg überaus erfolgreich und professionell geführt ist.“ Tatsächlich hatte nicht allein HanseMerkur über die Auszeichnung entschieden. Es gab eine qualifizierte Jury mit renommierten Kinderschützern, die alle ihr Votum für die Hilfsorganisation abgaben. Dazu gehörten der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, und von UNICEF Deutschland, Jürgen Heraeus, genauso wie Luise Köhler, die Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen. Die Jury dürfte nun deutlichen Aufklärungsbedarf sehen.

Für Hans-Gerhard Wilkens von der HanseMerkur steht jedenfalls fest: „Rückblickend würde die Entscheidung für das hervorragende Mentorenprogramm wieder so fallen, weil sie nicht nur auf Aktenlage der Bewerbung basierte, sondern auf vielen Gesprächen mit Akteuren und betroffenen Kindern.“ Um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen, organisieren sich die Mentoren bereits auf der Basis von sozialen Netzwerken.

In einem Schreiben heißt es: „Wir werden uns gegen die Schließung wenden. Das tun wir nicht für uns, sondern für die Jungs und Mädels, die wir seit Langem betreuen.“ Mentor Michael Steinkamp jedenfalls will weitermachen – auch ohne das geschasste Mentorenprogramm. „Das bin ich Colin schuldig. Denn schließlich soll er Verantwortung lernen. Sich einfach davonzustehlen – das geht doch gar nicht.“