2500 Hamburger demonstrieren für Bleiberecht der 300 Afrikaner. Neuankömmlinge schlafen in einem Großzelt

Altstadt/Groß Borstel. Die roten T-Shirts, in denen die Männer die Mönckebergstraße hinunter tanzen, hat die Gewerkschaft Ver.di spendiert. Einige schlagen Trommeln, Vuvuzelas dröhnen, und wenn der Anlass für diese Demonstration nicht ein solch trauriger, ernster wäre, könnte man meinen, hier werde verfrühter Karneval gefeiert. Die Passanten entlang der Hamburger Einkaufsstraße zücken ihre Smartphones und fotografieren fleißig.

Dabei es geht um eine handfeste politische und vor allem humanitäre Forderung: „We want to stay!“ – „Wir wollen bleiben!“ – rufen die Männer. Sie fordern das Bleiberecht nach Paragraf 23. Dieser sieht unter anderem vor, dass ein Bundesland aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen (oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland) anordnen kann, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

Mit 1500 Sympathisanten hatten die Veranstalter gerechnet, gekommen sind rund 1000 mehr. Denn es handelt sich um die „Lampedusa-Flüchtlinge“, vorwiegend Männer aus Westafrika, die auf libyschen Baustellen gearbeitet hatten, bis der Bürgerkrieg, dem der Sturz des Diktators Gaddafi folgte, sie aus dem nordafrikanischen Land zunächst nach Lampedusa, dann aufs italienische Festland und letztlich nach Mittel- und Nordeuropa gespült hatte.

Die überforderten italienischen Behörden hatten sie schließlich mit Touristenvisa für den Schengen-Raum ausgestattet, jedem von ihnen 500 Euro in die Hand gedrückt und sie praktisch des Landes verwiesen. Etwa 300 von ihnen kamen dann vor gut drei Monaten nach Hamburg. Doch nicht nur die städtischen Einrichtungen für Migranten und Asylbewerber, die ohnehin schon unter enormen Kapazitätsproblemen ächzen, haben seitdem ein Problem mehr. Vor allem der Senat ist gefordert, denn der Rückhalt und die Solidarität, den die „Lampedusa-Flüchtlinge“ inzwischen in der Bevölkerung erfahren, ist enorm. Und er wird offenbar von Tag zu Tag größer.

„Normalerweise werden Migranten als politisches Problem und sozialer Sprengstoff angesehen“, sagt Sieghard Wilm, 47, der „St.-Pauli-Pastor“, der 80 Westafrikaner in seiner Kirche beherbergt. „Aber solch eine Akzeptanz und Solidarität der Bevölkerung habe ich noch nie erlebt. Wir haben ja hier so etwas wie eine Art Dauerdemonstration, mit der wir beweisen, dass es Nachbarschaften gibt, in denen so etwas funktioniert, und die Solidarität nicht abbricht. Wir haben in den vergangenen Tagen noch mehr ehrenamtliche Helfer bekommen.“

Rund 50 Fahrräder seien gespendet worden, damit die mittellosen Männer keine Fahrkarten kaufen müssen. Sie besuchten Deutschkurse, machten Gartenarbeit, strichen die Laternen an und reparierten die Fahrräder. Und man wolle sich auch winterfest machen. Da gäbe es bereits einige Idee, aber die seien noch nicht spruchreif.“ Und vor dem Winter haben alle Angst, denn bisher hat der Hamburger Senat kein Entgegenkommen signalisiert. „Doch was wir jetzt zum ersten Mal erleben ist, dass sich eine Gruppe von Flüchtlingen gemeinsam artikuliert“, meint Wilm. „Sie sind untereinander gut vernetzt, tauschen sich aus. Dass sie ihre Identitäten nicht einzeln preisgeben wollen liegt daran, dass sie derzeit die besten Chancen in einer Gruppenlösung sehen und nicht in Einzelfallentscheidungen. Sie befürchten, dass einer gegen den anderen ausgespielt werden könnte.“ Man müsse versuchen, das zu verstehen, denn, sagt Wilm, „sie haben ja schließlich auch gemeinsam überlebt.“

Einer der Demonstranten, Dakou Saku aus Mali, 29 Jahre alt, drückt es drastischer aus: „Wir standen in Libyen unter Artilleriebeschuss, wir wurden bombardiert, nicht wenige von uns sind auf der Überfahrt nach Lampedusa ertrunken, aber keiner von uns will jetzt ausgerechnet in Hamburg auf der Straße verhungern oder erfrieren.“

Die „Lampedusa-Flüchtlinge“ genießen inzwischen einen Sonderstatus. Vermutlich liegt es daran, dass es sich bei ihnen um die westafrikanische Intelligenz handelt, um ausgebildete Handwerker, manche haben auch einen Universitätsabschluss. Und alle haben eine traumatische Flüchtlingsodyssee hinter sich, an der niemand ernsthaft zweifeln muss, im Gegenteil. Denn sie können und wollen sich, im Gegensatz zu ihren vielen Tausend Leidensgenossen, artikulieren. Sie verstecken sich nicht – und Öffentlichkeit schafft Transparenz und Vertrauen.

Auch Shahyokh Namayeshkha, 30, und Alireza Rame, 29, können dramatische Geschichten erzählen. Sie sind nur zwei von zurzeit 4450 Flüchtlingen und Asylbewerbern, die Hamburg zurzeit beherbergt; zwei junge Männer, die über die Türkei aus dem Iran geflohen sind. Jetzt sind sie in Groß Borstel.

Seit vier Tagen sind sie erst hier und schon enttäuscht vom „reichen Deutschland“: Denn sie müssen in einem Großzelt auf dem Rasen der Asyl-Erstbewerberstelle schlafen; gemeinsam mit ganzen Familien, auf schmalen, doppelstöckigen Feldbetten. Eine Privatsphäre gibt es nicht. Namayeshkha saß fünf Jahre im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis. Rame, der zum Christentum konvertierte, wurde von Revolutionswächtern verschleppt und gefoltert. Die Fotos seiner Misshandlungen hat er in seinem Mobiltelefon gespeichert, sie sollen seinem Asylantrag Nachdruck verleihen. Beide wissen, dass sie keine Lobby haben. Aber vielleicht ändert sich das ja schon bald.