Viele Menschen wollen keine Großstadt-Anonymität, sondern treffen sich in ihren Hinterhöfen und Gärten. Die große Lust auf Nähe

Hamburg. „Susanne! Dein Kaffee steht auf der Ecke!“ Susanne muss nur einmal kurz in ihre Wohnung im Erdgeschoss und ist gleich wieder zurück im Innenhof. Ida, 7, und Ole, 4, spielen mit einem Ball, die dreijährige Niamh hängt ein bisschen müde auf dem Arm ihrer Mutter, und Piet, 2, läuft nackt über die Wiese. Ein ganz normaler Sommernachmittag im grünen Innenhof zwischen dem Hofquartier und der Bauherrengemeinschaft Hafenliebe am Sandtorpark in der HafenCity. Dem kleinen Dorf mitten in der Stadt. Kinder, Mütter, Väter und Großeltern sind zu Kaffee, Saft und Kuchen zusammengekommen. Von Großstadt-Anonymität ist in vielen Hinterhöfen und Gärten in Hamburg nun wirklich nichts zu spüren, weil Nachbarn sich füreinander interessieren, am Leben der anderen teilhaben. Es ist die Lust auf Nähe, die die Menschen zusammenbringt.

Zweimal in der Woche gibt es ein Abendessen für alle Kinder, die in den Wohnblocks rund um den grünen Innenhof wohnen. Das können bis zu 20 Mädchen und Jungen sein, die dann bei Nadine Sager im Hochparterre draußen auf den Bierbänken Pasta essen. Aber meistens sind es nicht so viele. Am Vortag waren es nur 14 Kinder. „Wir feiern das Leben“, sagt ihre Nachbarin Clare Kiersey. Einem Paar war das schon ein bisschen viel Kinder-Trubel, es ist wieder ausgezogen und wohnt jetzt zwei Straßen weiter an der Osakaallee. „Es gibt Leute, die so viel Lebendigkeit eben nervt. Aber für unsere Kinder ist es super“, sagt Clare. Ihre Tochter Niamh und der fünfjährige Finn können mit den anderen Kindern über den Hof laufen, sie können auf dem Trampolin hüpfen, an der Wasserpumpe spielen, Rollerblades und Roller fahren. Es ist genug Platz da und keine Straße in der Nähe. Damit die ganz Kleinen nicht auf die Straße am Dalmannkai rennen, ist der Hof durch ein Tor gesichert. Erst vor Kurzem haben sie mit allen Nachbarn Finns Einschulung in die Vorschule der benachbarten Katharinenschule im Hof gefeiert, einen Tag später dann die Einschulung des sechsjährigen Henry. Henrys Mutter Andrea Wiehle hat Zitronenkuchen gebacken, die Großeltern aus Pinneberg haben Butterkuchen mitgebracht. Davon essen darf jeder, der gerade vorbeikommt.

„Am Wochenende sind wir viel unterwegs mit der Familie“, sagt Clare Kiersey, aber während der Woche spiele sich das ganze Leben auf ihrer grünen Insel ab. Seit dreieinhalb Jahren lebt sie in dem Haus. Weil die HafenCity ein Stadtteil im Entstehen ist, hätten am Anfang alle Anschluss gesucht. „Ich kam aus der Nähe von Bremen nach Hamburg, Clare kam aus Genf. Wir kannten niemanden“, sagt Nadine Sager. Andere Bewohner sind aus Hamburger Stadtteilen gekommen. „Mittlerweile haben wir eine What’s-appGruppe, über die wir uns austauschen, wenn wir einen Babysitter suchen oder mal wieder spontan mit anderen Nachbarn ausgehen wollen“, sagt Clare Kiersey. Für die Engländerin ist dieser lebendige Hof ihr „lifesafer“, ihr Lebensretter gewesen, als sie mit ihrem Mann und den Kindern aus Genf hierher zog. Im Oktober muss die 34-Jährige Abschied nehmen von dieser ganz besonderen Hausgemeinschaft: Ihr Mann muss beruflich nach Singapur. „Ich hoffe, dass wir dort etwas ganz Ähnliches finden wie hier in Hamburg.“

Etwas weniger grün und weniger sonnendurchflutet ist der Innenhof von Conny Riegel und ihren Nachbarn an der Langen Reihe in St. Georg. Dieser Hof, eingeklemmt zwischen Wohnhäusern, ist tagsüber eher ruhig, aber abends nach Feierabend wird es munterer. Wie so häufig muss nur einer den Anfang machen, damit die Menschen zusammenfinden. Conny Riegel hatte vor ein paar Jahren die Idee, den bis dahin tristen Hinterhof zu nutzen. Sie besorgte Bierbänke, grünen Plastikrasen, dann kam der Grill hinzu. Der erste Plastikrasen ist schon längst im Müll, zu hoch war die Beanspruchung. „Das hatte ganz schnell eine Eigendynamik“, sagt die 47-Jährige, „erst saß ich mit meinem Lieblingsnachbarn Toddi aus der fünften Etage dort, dann kamen die anderen hinzu.“ Diese Eigendynamik hält immer noch an: Mindestens ein- bis zweimal die Woche kommen die Schifffahrtskauffrau aus der ersten Etage und die anderen aus dem Elf-Parteien-Haus zusammen. Immer spontan, ohne Verabredung, jeder bringt einfach etwas mit. „Wir haben eine tolle Hausgemeinschaft. Das ist alles sehr, sehr locker und unkompliziert“, sagt Toddi Ouwens, 43. Es sei die richtige Mischung aus Nähe und Distanz. „Wir sind hier ein Partyhaus – immer gewesen“, sagt Conny Riegel.

Dass Menschen das Bedürfnis nach Gemeinschaft haben, sei nichts Neues, sagt Joachim Häfele, Stadtsoziologe an der HafenCity Universität. Zwar stehe die Stadt für Anonymität und das Dorf für Gemeinschaft und Sichtbarkeit, „aber in jeder größeren Stadt gibt es räumliche Einheiten, wo sich Gemeinschaften bilden.“ Einheiten wie Innenhöfe, Gärten oder Plätze. Neu sei die gestiegene Aufmerksamkeit, die solche Orte in den vergangenen zehn Jahren erfahren haben. „Architekten und Stadtplaner sind verstärkt bemüht, solche Räume zu schaffen. Gerade auch für ältere Menschen sind solche Orte zunehmend wichtig“, sagt Häfele. Dem Bedürfnis nach Geselligkeit, das sagt er aber auch, steht der Wunsch nach Distanz gegenüber. „Distanz ist wichtig für eine gute Nachbarschaft. Man muss sich zurückziehen können, ohne Verpflichtungen.“ Geselligkeit ist das eine Thema – Natur das andere: „Urban gardening ist en vogue, gerade bei Intellektuellen und Künstlern“, so Häfele. Dass die Menschen im Hinterhof Tomaten anbauen, habe es schon immer gegeben, aber es werde häufiger in Projektform organisiert und unter relativ hoher Aufmerksamkeit gegärtnert. „Das Thema Natur wird auch in der Stadtforschung wieder stärker in den Fokus gerückt.“

Um Entspannung, um das Wühlen in der Erde als Ausgleich zum Bürojob, um Natur im Tausch gegen die alltägliche Technik – darum geht es unter anderem Tobias Kneuker und seinen Mitstreitern. Der IT-Fachmann gärtnert gemeinsam mit Nachbarn im Waldgarten zwischen Marktstraße und Vorwerkstraße. Waldgarten im Zusammenhang mit dem Karoviertel, wie geht das denn? Tatsächlich stehen in dem schattigen Garten mächtige Linden und Pappeln. Urwaldgefühl in der Großstadt. Die dichten Baumkronen haben auch ihre Nachteile: Es kommt nur wenig Sonne durch das Blätterwerk hindurch. Zu wenig, um Tomaten gedeihen zu lassen. „Wir pflanzen deshalb geeignete Pflanzen, wie Bärlauch, Minze und Mangold an“, sagt Tobias Kneuker. Dem 31-Jährigen geht es neben dem Garten als sozialen Treffpunkt vor allem um die Lebensgrundlagen und die Kreisläufe der Natur, die er hier beobachten kann. „Ich bekomme einen Eindruck, wie viel Arbeit es braucht und wie lange es dauert, bis ich eine Handvoll Bohnen essen kann.“

Vor drei Jahren haben Tobias Kneuker und seine Mitstreiter aus dem brachliegenden Gelände hinter dem Wohnhaus nach und nach einen Garten geschaffen. Etwa zehn Leute sind in der „Gartengruppe“ aktiv, und es werden noch Helfer gesucht (Infos auf waldgarten.greenonion.org). Der Austausch mit den Nachbarn habe sich durch den gemeinsamen Garten verstärkt. Maurice Kohl, Fotodesigner, hat hier Stockrosen gepflanzt, er mäht den Rasen und gießt die Blumen. „Ich hatte schon als kleiner Junge einen Garten“, sagt der 35-Jährige. „Ich mag es, in der Erde zu wühlen, mich dreckig zu machen.“ Asana Fujikama, Kunststudentin aus Japan, lebt im angrenzenden Vorwerkstift und hat durch den Garten überhaupt erst Brennesseln kennengelernt. „Die gibt es bei uns in Japan nicht“, sagt die 32-Jährige. Im Herbst werden sie wieder alle gemeinsam Erntedank feiern.

Bis dahin aber sitzen sie abends am Lagerfeuer, genießen das Stück Natur und freuen sich darüber, wie gut sie es haben. Im Winter aber lebt jeder wieder ein Stück mehr für sich. Dann ist es in den Gärten und Hinterhöfen nicht mehr so gemütlich.