Eine Glosse von Alexander Schuller

Im Laufe ihres Zusammenlebens mit Kindern werden Eltern von Zeit zu Zeit auf harte Proben gestellt. Eigentlich sind es vollendete Tatsachen, wie der erste Rausch, die erste Klopperei, die erste Zigarette, der erste Joint, der erste Freund oder die erste Freundin, die Pille, 25 Sozialstunden nach dreimaligem Schwarzfahren, ein temporärer Schulverweis nach Schneeballwürfen, ein zerbeulter Kotflügel auf der Jungfernfahrt nach bestandener Führerscheinprüfung ...

Aber das sind im Grunde alles Kleinigkeiten. Sie sind reparabel und werden nach einiger Zeit als Erfahrungswerte im Gedächtnis gespeichert, damit man später bei Familienfeiern in lustigen Erinnerungen schwelgen kann: „Weißt du noch, als ...?“

Er sei jedoch gerade total verzweifelt, erzählte mir mein Freund Bernd, Vater von drei leidlich erwachsenen Kindern, als wir uns zufällig an der Autowaschanlage trafen. Denn in seiner Familie habe es nachweislich weder Seefahrer noch rechtskräftig verurteilte Straftäter gegeben, und doch wolle sein jüngster Sohn, der dieser Tage 21 Jahre alt werde, sich selbst mit einem großflächigen Unterarm-Tattoo beschenken. Chinesische Schriftzeichen sollen es werden, von einem Feuer speienden Drachen umkränzt, „dabei mag er nicht mal Ente süßsauer“, meinte Bernd, und ich erinnere mich, dass er in diesem Zusammenhang das Wort „verstümmeln“ erwähnte. Sein Sohn ließe sich jedoch nicht davon abbringen, selbst die sprichwörtlichen Engelszungen seien ungehört an ihm abgeprallt, und von den Freunden seines Sohnes sei schon gar keine Argumentationshilfe zu erwarten, denn die seien ja ebenfalls alle tätowiert. Wir sahen uns an, zwei Väter vor der Autowaschanlage; wir kamen uns in diesem Moment auch ziemlich verloren vor, aber auch wahnsinnig individuell, so ganz ohne Körperbemalung, Piercings und Ohrring.