Es ist so ein Satz, den man Marianne Clemens sofort abnimmt: „Ich fühle mich gar nicht, als wäre ich 100.“ Verständlich. Von einer 100-Jährigen erwartet man nicht, dass sie bis vor ein paar Monaten noch Tennis spielte. Oder ein Buch in einer Nacht durchliest. Dass sie ein Haus an der Ostsee und eine Wohnung in Lokstedt in Schuss hält und für ihre Söhne juristische Texte korrigiert.

Marianne Clemens tut all dies. Im Alter von 100 Jahren. Darauf dürfte sie stolz sein, sie ist aber vor allem sehr dankbar. „Es ist ein Geschenk des Herrgotts oder des Schicksals, wie man’s möchte.“

Es gibt noch etwas, was die 100-Jährige als besonders großes Geschenk empfindet. Die Tatsache, dass sie zwei Orte hat, an denen sie sich zu Hause fühlt. Der Duden nennt den Plural von „Heimat“ selten. Für Marianne Clemens gilt er trotzdem: Sie hat zwei Heimaten.

Die eine ist natürlich Hamburg, jene Stadt, in die sie 1933 nach ihrer Jugend in Leipzig und Chemnitz zog. 20 Jahre jung war sie damals, mit in den Norden brachte sie Walter Clemens, später Landgerichtspräsident in Hamburg, ihre große Liebe. Auch in die Hafenmetropole verliebte sie sich. „Ich war begeistert von dieser aufregenden Stadt, von dem vielen Wasser in der Mitte.“ Erst wohnten sie direkt an der Alster, 1938 zog das junge Paar dann nach Lokstedt – damals der Stadtrand von Hamburg.

Ihr Mann starb 1974, doch bis heute lebt Marianne Clemens in der Lokstedter Wohnung, in der sie ihre vier Söhne großzog und die sie nur einmal für längere Zeit verließ. 1953 war das, Marianne Clemens erinnert sich noch gut. „Es klingelte das Telefon, mein Mann nahm den Anruf entgegen. Als er aufgelegt hatte, sah er mich an und fragte: ‚Würdest Du mit mir nach Amerika gehen?‘ Marianne Clemens antwortete filmreif: „Ich würde überall mit Dir hingehen, auch in die Wüste!“

Das Auswärtige Amt engagierte den profilierten Juristen für den diplomatischen Dienst. Und so begab sich die Familie auf Schiffsreise. Nach dreieinhalb Wochen erreichten sie den Hafen von New York. Vier Jahre blieben sie in Übersee. „Eine wunderbare Zeit“, sagt die 100-Jährige zurückblickend.

Marianne Clemens’ Verbundenheit zu Amerika zog sich durch ihr weiteres Leben: Nach ihrer Rückkehr trat sie in Hamburg dem Deutsch-Amerikanischen Frauen-Club bei, leitete ihn später sogar lange Zeit als Präsidentin. Auch darüber hinaus ist ihr Bekanntenkreis weit verzweigt. Sie hat Nachbarn und Freunde, Verbindungen zum literarischen Kreis und zum SC Victoria, wo sie bis zu einem Sturz vor einem Jahr, bei dem sie sich den Oberschenkel brach, noch regelmäßig Tennis spielte.

Doch es gibt noch einen anderen Ort, an dem Marianne Clemens praktisch jeder kennt, wo alle sie „Großmutter“ nennen. Ahrenshoop, ein kleines Dorf mit gut 600 Einwohnern in der Mecklenburger Bucht. Hier steht das kleine Haus ihres Großvaters, weiß getüncht mit Strohdach. Es liegt so nah an den Dünen, dass man die Wellen der Ostsee rauschen hört. Hier ist Marianne Clemens’ zweite Heimat.

In Ahrenshoop, weit ab vom Schuss, überstand Mariannes Familie schwierige Zeiten, Kriege und Hungersnöte. Bis heute besucht die 100-Jährige dieses Refugium jeden Sommer. Vor einem Jahr ist sie die Strecke noch selbst mit dem Auto gefahren, doch dann haben ihre vier Söhne, acht Enkel und fünf Urenkel sich immer mehr Sorgen um sie gemacht, sodass sie ihren Führerschein schließlich abgab.

Jetzt nimmt sie den Zug, drei Stunden. „Wenn ich dann in Ahrenshoop ankomme, stelle ich immer sofort meine Sachen ab und gucke erst einmal über die Dünen. Dieser Ort ist das Maß der Schönheit in der Welt für mich.“ Es ist auch ein Ort, an dem Marianne Clemens ihre Freiheit spürt. Sie steht hier morgens um 7 Uhr auf, geht unter den hohen Pappeln die alte Dorfstraße entlang zum Bäcker. Sie macht sich Frühstück, putzt das Haus, erledigt Besorgungen, empfängt Besuch, schreibt und liest. „Es gibt genug zu tun. Die Tage reichen gar nicht aus“, sagt sie. In Bewegung bleiben, auch geistig, das ist ihr wichtig: „Mit dem Kopf ist es wie mit jedem anderen Körperglied. Wenn man ihn nicht bewegt, wird er lahm.“

Dass sie all die Dinge im Alter von 100 Jahren macht – Marianne Clemens nimmt es kaum wahr. „Wenn ich von jemandem höre, der 80 Jahre alt ist, denke ich: Das ist aber alt“, sagt sie und lacht. Ihr Geheimnis für ein langes Leben: „Ich gebe mir Mühe, die guten Seiten zu sehen – auch an den Menschen.“ Eine kurze Pause, dann schiebt sie nach: „Ich lebe einfach gerne.“ Auch das ist ein Satz, den man der 100-Jährigen sofort abnimmt.