Europa schaut mit Schaumstoff-Diplomatie zu, wie Russland in die Diktatur abdriftet

Eine letzte Nachricht, per Twitter: „Vermisst mich nicht. Noch wichtiger – seid nicht untätig.“ So verabschiedet sich Russlands bekanntester Blogger und Oppositioneller. In einem absurden Prozess wurde Alexej Nawalny zu fünf Jahren Straflager verurteilt, er habe Geld im Holzhandel veruntreut, so die Richter. In Handschellen wird Nawalny abgeführt. Und mit ihm auch Russlands Rechtsstaat.

Erst der Ölmagnat Chodorkowski, dann die feministische Punk-Band Pussy Riot, jetzt Nawalny – es sind nur die bekanntesten Fälle, in denen Oppositionelle verfolgt werden, sobald sie ernsthafte politische Ambitionen zeigen. Es gibt etliche weitere Fälle. Nawalny wollte 2018 gegen Amtsinhaber Wladimir Putin in der Präsidenten-Wahl antreten und im September für den Posten des Moskauer Bürgermeisters kandidieren. Beides ist Geschichte, bevor es aktuell wird. Russlands Justiz sorgt vor. Das Urteil ist ein Signal an Putins Kritiker: Werdet ihr mir gefährlich, werde ich euch los.

Und Deutschland? Merkel? Die EU? Schauen zu. Die Bundesregierung äußerte Zweifel, ob in dem Prozess strafrechtliche Motive im Vordergrund gestanden hätten, hieß es. Welch Ansage! „Fünf Jahre Haft erscheinen selbst vor dem Hintergrund des ihm zur Last gelegten Verbrechens unverhältnismäßig hoch“, erklärte der Regierungssprecher. Sätze mit der Wucht einer Sprühsahne-Kapsel. Ach ja, übrigens, die EU äußerte sich auch „besorgt“. Worte, die etwa so viel Betroffenheit ausdrücken, wie das Unbehagen über einen verregneten Sommertag. Danke, tschüss...

Wer die Menschen in Russland kennt, die mit viel Einsatz und auch Angst eine Zivilgesellschaft aufbauen, wer mit denen spricht, die sich nicht nur ein zweites Auto in der Garage wünschen, sondern auch faire Wahlen und freie Presse – den macht dieser Prozess gegen Nawalny wütend. Nun ist Wut nicht die beste Diplomatie.

Aber Druck hilft. Und den müsste die EU, allen voran Deutschland, nun aufbauen. Doch viel passiert nicht. Eine schweigende Kanzlerin? Hatten wir doch gerade? Merkel wird kritisiert für ihre watteweichen Worte an die USA in der Affäre um Datenspionage der US-Geheimdienste. Nun sind der NSA-Datenskandal und die Urteile russischer Justiz nicht zu vergleichen, und auch Obamas USA und Putins Russland lassen sich nicht auf eine Stufe stellen. Doch zeigen sich Parallelen in der Reaktion der deutschen Regierung: eine fatale Passivität. Die Auseinandersetzung mit den USA ist für Merkel eine heikle Angelegenheit. Geheimdienste spielen auch in Deutschland eine wichtige Rolle bei der Sicherheitsstrategie, und die transatlantischen Beziehungen sind in der CDU sogar Bestandteil ihrer politischen DNA.

Doch im Fall der zunehmenden Beschneidung russischer Rest-Demokratie lässt sich Merkels Passivität nicht erklären. Deutschland und die EU haben Einfluss auf Putin. Sie nutzen ihn nur nicht. Zum einen ist Putin ein eitler Herrscher, er zeigt sich gerne auf dem Parkett der Weltpolitik. Eine Ächtung seiner Repressionen kratzt am Image des „lupenreinen Demokraten“. Zum anderen kann es sich Russland nicht leisten, auf Druck mit Drohungen zu antworten. Die Wirtschaft des Landes ächzt, zu lange haben sich die Entscheider auf die Gasförderung verlassen. Doch die ist endlich. Und für einen Aufbruch in eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft braucht Russland Europa.

Klare Worte von außen wären zudem ein Zeichen an die Opposition in Russland: Ihr seid nicht allein! Allmählich regt sich Protest gegen Putin wieder stärker, eine Zivilgesellschaft erwacht. Dafür muss Geld fließen aus Europa nach Russland – vorbei an den Mächtigen. Schüleraustausch, Konferenzen von Forschern und Journalisten sind Wege, die auch die EU stärker fördern kann. Was nicht hilft: europäische Schaumstoff-Diplomatie.

Der Autor ist Redakteur in der Politikredaktion