Was hat ein 16-Jähriger erlebt, erduldet und verbrochen, dass nur noch die Unterbringung in einem geschlossenen Heim für ihn infrage kommt?

Hamburg. Der Befund ist sachlich-nüchtern. Von einer „frühkindlichen Bindungsstörung“ ist die Rede und von einer „langjährigen Störung des Sozialverhaltens“. Wenige Seiten später listet die Akte 16 Straftaten auf. Der Gerichtsbeschluss, wonach der 16-jährige Junge in einem geschlossenen Heim untergebracht werden soll, scheint folgerichtig.

Es wird wieder einmal gestritten dieser Tage, ob man jugendliche Kriminelle in geschlossenen Heimen unterbringen soll oder nicht. Ob man damit genau das Richtige macht. Oder alles nur noch schlimmer. Ausgangspunkt der Debatte sind Vorwürfe gegen Betreuer in brandenburgischen Heimen: Sie sollen Jugendliche misshandelt haben. Im Mittelpunkt dieser Debatte steht jedoch immer ein Mensch. Und die Frage: Was ist im Leben eines 16-Jährigen passiert, dass man die Gesellschaft vor ihm schützen muss – und ihn selbst vor der Gesellschaft? Dass als Alternative zum endgültigen Abgleiten in die Kriminalität nur die Unterbringung in einem geschlossenen Heim infrage kommt? Eine Einrichtung, aus der er nicht weglaufen kann, wo ihm Disziplin und Gehorsam abverlangt werden?

Das Abendblatt zeichnet das Leben eines heute 16-jährigen Jungen nach. Um den Sozialdatenschutz zu gewährleisten, wird auf Namen und Orte verzichtet. Wir nennen den Jungen Alex, was aber nicht sein richtiger Name ist.

Schon als Sechsjähriger muss Alex miterleben, wie seine Eltern vor Gericht um das Sorgerecht für ihn und seine Geschwister streiten. Der Vater beschuldigt die Mutter, sie würde die Kinder vernachlässigen, ja sogar schlagen. Die Mutter, so erzählt es der Vater, sei drogenabhängig. Als sie einen Selbstmordversuch unternimmt und anschließend in einer Klinik stationär behandelt werden muss, wird dem Vater das elterliche Sorgerecht übertragen.

Doch auch dort kommen die Kinder nicht zur Ruhe. Als die Mutter wieder genesen ist, geht der Streit vor Gericht weiter. Der Vater ist seit vielen Jahren arbeitslos. Die Mutter wirft ihm vor, die Kinder zu vernachlässigen. Hinzu kommen Vorwürfe, er konsumiere Kokain und handele mit Drogen. Erneut müssen die Kinder umziehen, dieses Mal wieder in den Haushalt der Mutter.

Häufige Wechsel der Bezugsperson schaden Kindern in ihrer Entwicklung, so ist die einhellige Meinung unter Sozialpädagogen. Alex reagiert auf die Familienverhältnisse mit einer „schweren Störung des Sozialverhaltens“: Bereits im Alter von sieben Jahren stiehlt er, lügt, zündelt und ist anderen Kindern gegenüber aggressiv. Vorläufiger Höhepunkt seiner Entwicklung ist ein Selbstmordversuch: Da ist Alex acht Jahre alt. Er versucht, sich zu strangulieren.

Kurz vor seinem zehnten Lebensjahr wird Alex psychiatrisch behandelt. Neben einer Störung des Sozialverhaltens aufgrund des Fehlens sozialer Bindungen stellen die Mediziner fest, dass der Junge wieder ins Bett macht. Für die Ärzte scheint die Ursache klar: die Vernachlässigung durch seine Eltern und deren Scheidung. Sie raten von einer Rückkehr des Jungen in den mütterlichen Haushalt ab. Zu groß ist die Gefahr, dass Alex in Kriminalität und Drogenmissbrauch abrutschen könnte.

Die Experten empfehlen, den fast zehn Jahre alten Jungen in einem Heim unterzubringen. Was Alex jetzt nötig hat, sei ein „Zuwachs an Sicherheit, Orientierung und an Stabilität“, heißt es in einem Schreiben des Arztes. Vier Jahre wird Alex in dem Heim bleiben – am Ende mit nur geringem Erfolg.

Die Zeit in dem Heim sei mit einer „Fülle schwerer Verhaltens- und Anpassungsstörungen“ belastet gewesen, heißt es. Der Abschlussbericht spricht von „suizidalen Krisen“ und Selbstverletzungen. Zudem flüchtet Alex immer wieder aus dem Heim, stiehlt, raucht, trinkt und nimmt Drogen. Auch von sexuellem Missbrauch ist die Rede. Nach der Entlassung aus dem Heim – Alex ist inzwischen 14 Jahre alt – beginnt für ihn eine Irrfahrt durch verschiedene Einrichtungen der Jugendhilfe. Eine Heim nach dem anderen erklärt, dem Jungen nicht helfen zu können. Bei anderen Maßnahmen wiederum stellt Alex sich quer. Immer wieder findet er für kurze Zeit Aufnahme beim Kinder- und Jugendnotdienst. Hilfe von seinen Eltern erhält er, zumindest der Aktenlage zufolge, keine.

Längst ist Alex mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Innerhalb von nur 15 Monaten werden 14 Ermittlungsverfahren gegen ihn angestrengt: versuchter Raub, Diebstahl, Körperverletzung Handel mit Drogen, Waffenbesitz. Wiederholt muss der Junge sich vor einem Jugendgericht verantworten. Die Richter verfügen die Teilnahme an einem sozialen Kompetenztraining und an einer Suchtberatung. Doch vergebens: Alex erfüllt die Auflagen nicht.

Als wieder einmal eine Aufnahme in einem Jugendhaus fehlschlägt, zieht Alex bei seiner Mutter ein. Doch das Zusammenleben funktioniert nicht. Mutter und Sohn tragen schwere Konflikte aus. Am Ende steht der Bruch, Alex zieht wieder aus. Die Mutter macht für die Entwicklung ihres Sohnes das Jugendamt verantwortlich und weigert sich, weitere staatliche Hilfen für Alex zu unterstützen. Der Vater ist für Ämter und Behörden kaum zu erreichen und durch Drogenkonsum vorbelastet.

Alex ist noch keine 16 Jahre alt und doch schon an einem Punkt in seinem Leben, wo es kaum mehr einen Ausweg gibt. Er nimmt unterschiedliche Arten von Drogen, trinkt, raucht, verübt Straftaten. Von schulischer Entwicklung ist längst keine Rede mehr. Konflikte versucht er durch Weglaufen zu lösen. Er hat inzwischen Schulden angehäuft.

Sämtliche Hilfsmaßnahmen, ambulante wie stationäre, pädagogische wie therapeutische, sind gescheitert. Es scheint nur ein Frage der Zeit, bis andere Menschen zu Schaden kommen. Als die Behörden den Antrag auf eine Unterbringung in einem geschlossenen Heim stellen, ist längst klar, dass Alex Opfer und Täter zugleich ist.