Die Medizin bringt uns immer mehr Diagnosen. Aber sind wir darauf vorbereitet?

Es ist die wohl mit Sicherheit größte Sorge aller werdenden Eltern: Kommt unser Baby gesund zur Welt? Wie geht es dem oder der Kleinen im Mutterleib? Wird das Kind leben? Wird es vielleicht schon krank geboren? Oder mit schweren Behinderungen?

Bis vor ein paar Jahrzehnten blieb selbst die Frage, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird, bis zuletzt spannend und ungewiss. Heute können die Experten viele Details und Krankheiten des künftigen Erdenmenschen sehen – lange bevor er das Licht der Welt erblickt. Die zum 1. Juli eingeführte erweiterte Ultraschalluntersuchung bietet den Medizinern – aber vor allem auch den Eltern – einen noch viel umfassenderen Blick auf mögliche Krankheiten und Fehlbildungen des Kindes.

Das kann Eltern große Sorgen nehmen, und es kann bei einer ganzen Reihe von Krankheiten Kinder durch frühzeitige Behandlungen im Mutterleib retten oder zumindest Leiden mindern. Die zusätzliche umfassende Untersuchung kann also ein wahrer Segen sein.

Doch das Mehr an Wissen kann auch genau das Gegenteil sein: Das Wissen der immer besser werdenden medizinischen Untersuchungen kann zu erheblichen Nebenwirkungen bei der werdenden Mutter, dem angehenden Vater führen. Längst nicht alle Fehlbildungen und Krankheiten, die bei den Untersuchungen festgestellt werden, sind auch von der modernen Medizin behandelbar. Das Schlimmste, das den Eltern also droht, ist die schreckliche Gewissheit: Ihr Kind wird mit einer schweren Behinderung zur Welt kommen.

Und damit stehen Mutter und Vater in spe im Zweifel vor der wohl schwierigsten ethischen Entscheidung, die man sich vorstellen kann. Es geht im Zweifel um eine Verantwortung über Leben und Tod. Und: Es geht am Ende für Mutter und Vater eventuell auch darum, sich selbst auf die Belastungen einer vielleicht lebenslangen Pflege des vielleicht schwerstbehinderten Kindes einzulassen.

Zur immer perfekter werdenden medizinischen Diagnose muss daher unbedingt eine intensive Beratung gehören – ja, und auch eine individuelle psychologische Betreuung. Das Beratungsgespräch sieht die Regelung für die neuen Ultraschalluntersuchungen verpflichtend vor. Das ist gut und wichtig. Aber wird die Betreuung auch im Extremfall reichen? All die Fortschritte der modernen Diagnostik bringen große Chancen – aber führen am Ende im Zweifel auch zu einer Frage: Wie viel Schicksalswissen verträgt der Mensch? Oder: Wie kann man Menschen helfen, mit der Schwere dieser Wissenslast umzugehen?

Das ist bei allem medizinischen Fortschritt eine Frage, die zunehmend wichtiger wird. Denn die neu angebotene umfassende Untersuchung eines ungeborenen Kindes im Mutterleib ist sicherlich das weitreichendste Beispiel für die mögliche Schwere und Tragweite einer medizinischen Diagnose. Es gibt aber auch darüber hinaus immer mehr Beispiele dafür, wie die Medizin zwar das Wissen um Probleme und Krankheiten produziert – aber leider noch keine Lösungen, oder besser gesagt, helfende Therapien parat hat.

Jüngstes prominentes Beispiel dafür lieferte die Schauspielerin Angelina Jolie, die sich beide Brüste amputieren ließ, nachdem durch einen Gentest bei ihr ein vererbtes, erhöhtes Risiko für Brustkrebs festgestellt wurde. Der Fall sorgte vor ein paar Monaten weltweit für Schlagzeilen. Und: Er richtete für einen kurzen Moment das Augenmerk auf die Frage: Wie gehen wir mit dem Wissen um, das uns die Möglichkeiten der modernen Medizin beschert? Bei jeder verfeinerten Diagnosemöglichkeit muss sie neu gestellt werden. Denn Antworten auf diese Frage sind umso wichtiger – solange es keine lebensrettenden Therapien gibt.

Der Autor ist Mitglied der Chefredaktion des Hamburger Abendblatts