In den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei muss die EU ihre Strategie ändern, findet Abendblatt-Politikredakteur Christian Unger.

35 Kapitel ist die Türkei von einem Beitritt zur Europäischen Union entfernt. 35 Pakete, geordnet nach Themen, enthalten die Verhandlungen zwischen EU-Politikern und türkischen Kollegen. Seit drei Jahren stocken die Gespräche, nur ein einziges der Kapitel ist abgeschlossen, viele andere sind suspendiert. Und noch nie war die Gefahr eines endgültigen Scheiterns der Beitrittsverhandlungen größer als in diesen Tagen.

Doch das wäre fatal. Denn der Dialog zwischen der EU und der Türkei ist wichtiger denn je. Europa darf sich nicht aus der Türkei raushalten. Das ist die EU auch den jungen Menschen auf dem Taksim-Platz in Istanbul schuldig, die von der Polizei brutal niedergeschlagen werden. Es gab Tote und Verletzte. Aber Europas Politiker tragen auch Verantwortung für die vielen Türken, die sich einen EU-Beitritt ihres Landes wünschen und nun bangen – Kaufleute, Künstlerinnen, Ärzte, eine wachsende aufgeklärte Mittelschicht. Von ihrer wirtschaftlichen, kreativen und politischen Kraft kann ganz Europa profitieren.

Ein Dialog ist in keinem Fall als Belohnung für das brutale Vorgehen der türkischen Eliten gegen Demonstranten zu verstehen. Verhandlungen sind vielmehr der wirksame Weg der Einmischung und der Chance auf Wandel, hin zu mehr Freiheit und Demokratie in Europa. Ein Abbruch bedeutet nur eine weitere Abschottung der Regierung in Ankara, für die Stabilität des Landes und die Zivilgesellschaft kann das fatale Folgen haben.

Und dennoch: Die EU muss ihre Strategie im Dialog mit der Türkei ändern. Vor allem braucht die EU eine härtere Haltung gegenüber Regierungschef Tayyip Erdogan. Das Bild vieler EU-Beamten von einem Premier, der für alle Akteure der Anker in die Europäische Gemeinschaft ist, hat in den vergangen Jahren Risse bekommen. Erdogan wurde in Brüssel mit diplomatischen Samthandschuhen begrüßt. Doch sein Vorgehen gegen die Demonstranten in diesen Tagen hat das schon rissige Bild platzen lassen.

Zehn Jahre ist Erdogan an der Macht. Sicher hat er viel bewegt in der Türkei: das Militär politisch entmachtet, Frauen und religiösen Minderheiten mehr Rechte eingeräumt und die Wirtschaft modernisiert. Erdogan erreichte den Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005. Doch der autoritäre Schatten des einzigen Modernisierers wuchs, die Rechte wurden eingeschränkt. Die Folge: Nur in Weißrussland sitzen in Europa mehr Journalisten in Gefängnissen, auch Anwälte und Oppositionelle werden verfolgt. Erst im Januar verurteilte ein Gericht eine bekannte türkische Soziologin, weil sie angeblich als PKK-Mitglied einen Anschlag verübt haben soll. Beweise gibt es nicht. Der Prozess war auch eine Warnung für andere Bürgerrechtler und Intellektuelle.

Und Erdogans Rhetorik wird schärfer: Unlängst stellte er Zionismus auf eine Stufe mit Faschismus und nannte die Demonstranten aus dem Gezi-Park in Istanbul „Terroristen“ und „Gesindel“.

Der Aggressivität Erdogans muss die EU eine klare Haltung entgegensetzen. Brüssel darf nicht das Scheitern eines Beitritts beschließen, aber die EU muss ihn vor die Wahl stellen: Menschenrechte wahren, Pressefreiheit achten, Opposition zulassen, oder dem Land werden die Vorteile eines EU-Beitritts weiter verwehrt bleiben. Ein Scheitern will auch Erdogan nicht.

Die Verhandlungsführer der EU dürfen sich jedoch nicht in Hinterzimmer-Gespräche zurückziehen. Sie müssen als Gesandte eines freiheitlichen Europas auch in der Türkei präsent sein – auf Kulturveranstaltungen, im Rahmen von Austauschprogrammen, in den sozialen Netzwerken und auf Nachrichtenseiten im Internet, die auch in der Türkei gelesen werden. Die Botschaft der EU-Politiker muss klar sein: Nicht die Türkei darf isoliert werden - stattdessen der autoritäre Kurs Erdogans.

Der Autor ist Politikredakteur des Hamburger Abendblatts