Das Aufgebot der Politiker beim Kirchentag macht Sinn - auch für den Protestantismus

Wer in diesen Tagen durch die Messehallen in Hamburg geht, begegnet politischer Prominenz auf Schritt und Tritt. Bundespräsident Joachim Gauck, Kanzlerin Angela Merkel (CDU), SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, Claudia Roth und Katrin Göring-Eckhardt von den Grünen geben sich praktisch die Klinke in die Hand. Sehen und gesehen werden heißt es auf dem großen Christentreffen. Schließlich stehen die Zeichen auf Bundestags-Wahlkampf.

Aber nicht allein parteipolitisches Kalkül treibt die Akteure des Berliner Politikbetriebs kollektiv zum Deutschen Evangelischen Kirchentag. Es sind vielmehr Faszination und Kraft eines selbstbewussten Protestantismus, der zu erleben ist - in den Debatten über behinderte Menschen (Inklusion) genauso wie über die Energiewende und die Finanzkrise.

Diese Kraft speist sich zum einen aus den Quellen des christlichen Glaubens. Gerade in den Bibelarbeiten legen die häufig prominenten Interpreten den Kern der alten Texte frei. Und zwar so, dass sie im Licht der Gegenwart strahlen und aktuelle Handlungsimpulse geben können. Wer den Glauben des Juden Jesus aus Nazareth ernst nimmt, kommt an seinem ethischen Anspruch der Gottes- und Nächstenliebe nicht vorbei. Auf die Gegenwart angewandt, bedeutet das etwa: Kampf gegen Menschenhandel und moderne Sklaverei.

Das christlich-jüdische Menschenbild prägt den Wertekanon des Rechtsstaats bis heute, beispielsweise in der Präambel und im 1. Artikel des Grundgesetzes. Es ist also sinnvoll, wenn der Kirchentag mit vielen Politikern diskutiert, wie die christlichen Werte unter den Bedingungen der Globalisierung Maßstäbe für staatliches und individuelles Handeln sein können. Zum anderen speist sich die Kraft eines selbstbewussten Protestantismus aus den Menschen selbst.

Da sind die mehr als 100.000 Dauerteilnehmer, die sich der Reformation Martin Luthers verbunden fühlen. Und gut "protestantisch" sind. Also, dem Wortsinn entsprechend, Zeugnis ablegen für die Freiheit des Gewissens, für Menschenwürde und Gerechtigkeit. Gerade das evangelische Pfarrhaus steht in seiner mehr als 500 Jahre alten Geschichte als humanistischer Hort der Bildung für einen aufgeklärten Protestantismus, der eine hohe Affinität zur Politik aufweist.

Aus diesem protestantischen Pfarrhaus stammt Kanzlerin Merkel. Mehr noch: Als Pastor arbeitete vormals Bundespräsident Gauck, und die Spitzenkandidatin der Grünen, Katrin Göring-Eckhardt, ist ebenfalls Theologin. Sie repräsentieren einen weltzugewandten christlichen Glauben, der sich politischen Verhältnissen gegenüber niemals neutral verhalten kann. Wer das Wort Jesu vom "Salz der Erde" ernst nimmt, muss sich in jeder Epoche in die Politik einmischen.

Deshalb versteht sich der Kirchentag seit seiner Gründung vor mehr als 60 Jahren als "evangelische Zeitansage", auch als gesellschaftliche und kirchliche Provokation. Das mag von eher konservativen Christen kritisiert werden, weil ihnen das zu viel Aktion und zu wenig Kontemplation bedeutet. Zwar kommen Elemente pietistischer Frömmigkeit auch auf diesem Kirchentag zu kurz. Doch wer das erwartet, legt an die protestantische Nachkriegsbewegung falsche Maßstäbe an.

Das Selbstverständnis der Evangelischen Kirchentage zielt stattdessen auf gesellschaftspolitische Einmischung und Veränderung. Politiker, vorzugsweise aus der eigenen Konfession, sind da willkommene Gesprächspartner. Die "evangelische Zeitansage" des Hamburger Kirchentags 2013 zeichnet sich schon jetzt ab: Sie ist von interreligiöser Statur. Der Protestantismus kann dann für die Menschen attraktiv bleiben, wenn er den Dialog mit den Weltreligionen sucht.