Das Schicksal des zwölfjährigen Gleb Tatarnikov bewegt viele Hamburger. Dank einer Knochenmark-Transplantation hat der Junge die Leukämie besiegt - doch jetzt droht ihm die Abschiebung nach Russland.

Hamburg. Mit zwölf Mitschülern hat sich Gleb Tatarnikov an seiner Schule zum Spielen verabredet. Das Eingangstor ist abgeschlossen. Alle Kinder klettern über das Tor. Bis auf den zwölfjährigen Gleb. Er darf nicht klettern. Seine Knochen sind zu instabil. Acht Jahre litt der Junge an Leukämie. Mit drei Jahren erkrankte Gleb, zwei Rückfälle überlebte er. Als der Krebs im April 2010 erneut zurückkehrte, hatten ihn die Ärzte in seiner Heimat Russland aufgegeben, die Behandlungen wurden eingestellt.

Glebs Mutter Ella Tatarnikova suchte Hilfe in Deutschland - und fand sie. Eine Knochenmarktransplantation am UKE rette Gleb vor zwei Jahren das Leben. Der Junge wohnt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung am Lokstedter Steindamm. Bis jetzt. Denn Gleb und seine Mutter sollen zurück nach Russland. Das medizinische Visum ist abgelaufen, die Verlängerung endet am 21. April. Doch Gleb und seine Mutter wollen nicht zurück. "Eine Rückkehr nach Russland würde meinen Sohn zurück in die Isolation versetzen", sagt Ella Tatarnikova. Sie hat eine Petition im Eingabenausschuss eingereicht. Am Montag wurde der Fall erstmals behandelt - und in die Härtefallkommission überwiesen. Das Bezirksamt Eimsbüttel wollte sich zu dem komplizierten Fall nicht äußern: "Wir beachten die aufschiebende Wirkung", sagte Sprecherin Aileen Röpcke.

Kompliziert verlief auch Glebs Operation am UKE. Zweimal musste der Junge wiederbelebt werden. Zwei Tage nach der OP bekam er eine Blutvergiftung. Gleb wurde in ein künstliches Koma versetzt. Er wachte wieder auf, doch es folgte die nächste Schock-Diagnose: Epstein-Barr-Virus. Die Ärzte entschieden sich für eine hoch dosierte Chemotherapie. Gleb überlebte auch diese Behandlung. "Er musste wieder sitzen, essen und laufen lernen", sagt seine Mutter.

Vier Monate später wurde Gleb an der Grundschule Döhrnstraße in Lokstedt eingeschult. "Das war das wichtigste Ereignis in seinem Leben", sagt Ella Tatarnikova. Innerhalb weniger Wochen erlernte Gleb die deutsche Sprache. Nach weniger als einem Jahr an einer deutschen Schule erhielt er eine Empfehlung für das Gymnasium. Heute geht Gleb in die fünfte Klasse des Gymnasiums Corveystraße in Lokstedt.

An seiner Schule sorgte die Nachricht von einer möglichen Abschiebung für Entsetzen. Seine Klassenlehrerin reagierte bestürzt. "Gleb hat sich hier super integriert und ist ein ganz fester Bestandteil unserer Klassengemeinschaft", sagt Lisa Kühne. Die 30-Jährige kann sich nicht vorstellen, ihren Schüler zu verlieren. "Durch Gleb herrscht in unserer Klasse eine besondere Stimmung. Die Kinder lernen, aufeinander aufzupassen und fürsorglich zu sein", sagt Kühne.

Auch Gleb muss aufpassen. Seit der Chemotherapie leidet er an der Knochenkrankheit Osteonekrose. "Seine Knochen sind empfindlich wie Glas", sagt seine Mutter. Erst vor wenigen Wochen brach sich der Junge bei einem Sturz auf dem Schulhof den Oberarm. Den Schmerz ließ er sich nicht anmerken. "Gleb ist unglaublich hart im Nehmen und spielt vieles runter", sagt Kühne. Vor allem das Laufen fällt dem Schüler schwer. Trotzdem ist Sport Glebs Lieblingsfach - neben Theater und Englisch. "Obwohl er erst seit wenigen Monaten Englisch hat, ist er über dem Klassendurchschnitt", sagt Klassenlehrerin Kühne, die ihn auch in Englisch unterrichtet. Bei seinen Mitschülern ist Gleb extrem beliebt. Viele von ihnen haben bereits Unterschriften gesammelt, damit Gleb bleiben kann. Und sie haben eine eigene Facebookseite erstellt. "Gleb muss bleiben. Gleb gehört zu uns", heißt es auf der Seite, die bereits mehr als 500 "Gefällt mir"-Angaben erhalten hat.

Gleb geht in Deutschland das erste Mal auf eine Schule. Die ersten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er fast ausnahmslos in russischen Krankenhäusern. Unterricht erhielt er nur privat. In seinem Heimatland hätte er an einer Schule keine Chance, meint seine Mutter. "Die Schulen sind dort einfach zu groß. Er würde nicht die notwendige Betreuung erhalten", sagt Ella Tatarnikova. Zudem sei die medizinische Versorgung katastrophal. "Ich musste bei meinem Sohn selbst Injektionen machen, manchmal sogar mit hoch dosiertem Chemopräparat", beschreibt die Mutter die Zustände in Russland.

Vor einem halben Jahr war Gleb das letzte Mal dort. Er besuchte seinen Vater, der in Russland getrennt von seiner Frau lebt. In einer Stadt 40 Kilometer vor Moskau. In der Wohnung, in der Gleb groß geworden ist. "Wann fahren wir wieder nach Hause?", fragte Gleb seine Mutter. "Du bist doch hier zu Hause", entgegnete sie. "Nein Mama, ich meine Hamburg. Wann fahren wir wieder nach Hause?"