Nach einem Verkehrsunfall darf der ehemalige Sprecher der SPD, Bülent Ciftlik, nicht ausreisen. Der Grund: Dem 40-Jährigen waren die Papiere abgenommen worden. Platzt jetzt sein Prozess in Hamburg?

Hamburg/Neu-Delhi. Welch atemberaubender Aufstieg, welch tiefer Fall: Einst war er der Hoffnungsträger der SPD, der "Obama von Altona", wie ihn eine Frauenzeitschrift nannte. Doch dann stolperte Bülent Ciftlik über eine Scheinehe-Affäre, wurde aus der Partei ausgeschlossen - nun droht auch noch der seit einem Jahr laufende Strafprozess gegen ihn zu platzen. Grund: Der ehemalige Sprecher und Bürgerschaftsabgeordnete der SPD war nach Abendblatt-Informationen an einem Verkehrsunfall in Indien beteiligt. Deshalb werde er von den indischen Behörden am Verlassen des Landes gehindert, teilte die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft, Nana Frombach, auf Anfrage mit. Dem 40-Jährigen seien bereits die Papiere abgenommen worden. Deshalb konnte Ciftlik am Freitag auch nicht zur geplanten Verhandlung vor dem Landgericht erscheinen.

Dort wird Ciftlik seit mehr als einem Jahr der Prozess gemacht - unter anderem soll er eine Scheinehe angestiftet haben. Bereits im Juni 2010 hatte ihn das Amtsgericht St. Georg zu einer Geldstrafe von 12.000 Euro verurteilt, weil er seine Ex-Freundin überredet haben soll, einen türkischen Bekannten zu heiraten. Im Juli 2010 verließ er die Hamburger SPD-Fraktion, im November 2010 wurde er aus der SPD ausgeschlossen. Ciftlik hatte gegen den erstinstanzlichen Schuldspruch Berufung beim Landgericht eingelegt. Vor der Kammer unter Vorsitz von Richter Rüdiger Göbel muss sich Ciftlik darüber hinaus aber noch wegen neun weiterer Straftaten verantworten, darunter Körperverletzung, Wahlfälschung und Anstiftung zur Urkundenfälschung.

In dem zum Teil bizarren Prozess hat die Ex-Freundin von Ciftlik ausgesagt, wie Ciftlik sie während der Ermittlungen massiv unter Druck gesetzt habe. So habe sie unter anderem willfährige Zeugen "organisieren" sollen, die zugunsten Ciftliks aussagen sollten. Weiter erklärte die Frau: Ihr Ex-Geliebter habe ihre für die Staatsanwaltschaft bestimmte Aussage frisiert und sie dazu gedrängt, in einem Fotostudio mit anderen falsche Zeugenaussagen einzustudieren. Zudem habe er sie genötigt, an Eides statt zu versichern, dass sie eine "echte" Ehe mit Kenan T. führe, um so die Abschiebung ihres türkischen (Schein-)Ehemanns zu verhindern. Weigere sie sich, werde er sein "Netzwerk aktivieren" und dafür sorgen, dass sie "keinen Job mehr in Deutschland" bekomme.

Das Landgericht prüft nach Abendblatt-Informationen nun, ob Ciftliks Abwesenheit von der Hauptverhandlung als "eigenmächtig" anzusehen ist. Nach Paragraf 231 der Strafprozessordnung kann der Prozess in seiner Abwesenheit nur dann fortgesetzt werden, wenn Ciftlik bereits Gelegenheit hatte, sich zur Sache zu äußern und er sein Fehlen in Kenntnis der Verhandlungstermine selbst verschuldet hat, etwa durch einen Urlaub. Liegt eine derartige "Eigenmächtigkeit" im Sinne des Gesetzes aber nicht vor - wird Ciftlik also durch die Einwirkung Dritter daran gehindert, an der Hauptverhandlung teilzunehmen - könnte der Mammutprozess platzen und müsste neu aufgerollt werden, so Frombach.

So weit ist es aber noch nicht. Das Gericht geht nach Angaben von Sprecherin Ruth Hütteroth vorläufig davon aus, dass er sein Fehlen selbst zu verantworten hat. Bereits am Freitag ist in Ciftliks Abwesenheit weiterverhandelt worden. Ob er für sein Nichterscheinen überhaupt verantwortlich gemacht werden kann, sollen jetzt die weiteren Ermittlungen klären. "Das Gericht hat der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Ermittlungsauftrag erteilt", sagte Hütteroth. Wie sich der Unfall ereignet hat und wie Ciftlik darin verwickelt ist, soll jetzt in Indien eine Verbindungsfrau des Bundeskriminalamts klären. Auch die Deutsche Botschaft in Neu-Delhi sei bereits informiert. Den nächsten Verhandlungstermin hat das Gericht für den 6. Mai anberaumt.

Mit seiner Reise nach Indien hat Ciftlik indes keine Gesetze gebrochen oder Auflagen verletzt, dem 40-Jährigen war es gestattet, Deutschland zu verlassen. Zwar gab es einen Haftbefehl, und Ciftlik befand sich wegen Verdunkelungsgefahr zwischen März und Juli 2011 sogar dreieinhalb Monate in Untersuchungshaft. Doch im Sommer 2012 wurde der zunächst außer Vollzug gesetzte Haftbefehl gegen ihn endgültig aufgehoben.

Unterdessen wies der Bundesverband der SPD türkische Medienberichte zurück, wonach das Berliner Kammergericht den Parteiausschluss Ciftliks aufgehoben und der SPD bis zum 15. April Zeit gegeben habe, den Rauswurf rückgängig zu machen. Nach Angaben eines Parteisprechers ist eine derartige Entscheidung in der SPD nicht bekannt. Laut Ulrich Wimmer, Sprecher des Kammergerichts Berlin, sei ursprünglich für Donnerstag ein Termin für die mündliche Verhandlung anberaumt gewesen. "Doch dieser Termin ist bereits im März auf September verschoben worden", sagte Wimmer.

Die Bundesschiedskommission der SPD hatte vor zwei Jahren die Entscheidung des Hamburger Landesverbands bestätigt, Ciftlik aus der SPD auszuschließen. Dagegen hatte Ciftlik sich zur Wehr gesetzt und vor dem Landgericht Berlin geklagt. Das Landgericht wies die Klage im August 2012 ab. Dagegen ist Ciftlik vor dem Kammergericht Berlin in Berufung gegangen. In der Hamburger SPD galt Ciftlik lange als Hoffnungsträger. 2004 wurde er Pressesprecher seiner Partei, 2008 zog er als Abgeordneter für die SPD in die Bürgerschaft ein.