Deutschland braucht Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, muss aber mehr für sie tun

Bulgarien und Rumänien hätten im Jahr 2007 nicht in die EU aufgenommen werden dürfen. Mit der Demokratie haben die Regierungen bis heute Probleme, die Wirtschaft ist marode, es grassiert die Korruption, Minderheiten werden diskriminiert. Trotzdem: Aufgenommen ist aufgenommen. Deshalb müssen alle Europäer die Diskussion um die Arbeits- und Armutsmigration ernst nehmen.

Jeder von uns kennt osteuropäische Bettler vor dem Supermarkt. Sie stören uns, weil sie uns ein schlechtes Gewissen machen. Konservative Politiker wie Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) nutzen das aus: Sie gehen mit dem Thema "Armutszuwanderung" auf Stimmenfang. Das Horrorszenario von Friedrich und Co. geht so: Hunderttausende Armutsflüchtlinge lassen sich in Deutschland nieder, kassieren Hartz IV, schicken ihr Kindergeld in die Heimat.

Ein Blick auf die Fakten ergibt ein anderes Bild: Im Jahr 2011 kamen 150.000 Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland. Und 90.000 reisten wieder aus. Zwar bleiben immer noch viele hier - aber die Abwanderung wird in der Diskussion häufig verschwiegen.

Und auch mit der Beschreibung der Zuwanderer als Armutsflüchtlinge ist das so eine Sache: Einer Studie zufolge gehen 80 Prozent aller Menschen, die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland gekommen sind, einer Erwerbstätigkeit nach. Von diesen sind 22 Prozent hoch qualifiziert, 46 Prozent qualifiziert - also Zuwanderer, die Deutschland dringend benötigt. Der deutsche Arbeitsmarkt braucht auf Dauer eine Nettozuwanderung von mindestens 200.000 Arbeitskräften pro Jahr, um den Fachkräftebedarf zu decken.

Zwar können Bulgaren und Rumänen hier Kindergeld beziehen, doch die ausgezahlte Summe ist für Hamburg verschwindend gering. Und Hartz IV erhalten diese Menschen nur unter Bedingungen: Sie müssen hier erst einen Job gehabt haben, bevor es Geld vom Jobcenter gibt. Als Beispiel für Sozialschmarotzertum taugen die Zuwanderer also nicht. Es stimmt aber auch, dass die Krise in beiden Ländern nicht nur Ärzte und Wissenschaftler nach Deutschland treibt. Sondern auch völlig verarmte Menschen. Viele von ihnen leben in Hamburg unter schwierigsten Bedingungen. Sie wohnen oft in überteuerten Wohnungen und arbeiten für einen Hungerlohn. Die Gesellschaft will häufig gar nicht wissen, wer da im Büro putzt oder auf der Baustelle arbeitet - solange der Preis niedrig ist.

Die Ausbeutung treibt viele Migranten in Alkohol, Prostitution und Kriminalität. Viele der Menschen könnten in Deutschland Tritt fassen, wenn sie arbeiten dürften. Doch die Bundesrepublik hat die Arbeitnehmerfreizügigkeit außer Kraft gesetzt. Ein Fehler: Das Beispiel Polen hat gezeigt, dass die freie Arbeitsplatzwahl von EU-Bürgern nicht massenweise Jobs vernichtet und auch die Sozialkassen nicht übermäßig belastet. Deshalb sollte eine Folgerung aus dieser Diskussion sein, dass EU-Bürger auch in jedem EU-Land arbeiten dürfen.

Die Bundesregierung sollte Städten wie Hamburg mehr Geld für Armutsflüchtlinge zur Verfügung stellen. Geld für eine bessere gesundheitliche Versorgung, für Kinderbetreuung, für Schulen und Integrationskurse. Es muss darum gehen, den Kindern der Armutsflüchtlinge eine Chance auf Integration zu geben.

Doch auch die EU ist gefragt: Sie muss dafür sorgen, dass Bulgarien und Rumänien die Korruption bekämpfen, dass EU-Geld in Bildung und Wirtschaft fließt und nicht in die falschen Taschen. Dann wird es für viele Menschen attraktiver sein, in der Heimat zu bleiben. Europäische Gemeinschaft meint auch Solidarität. Man kann Wanderung innerhalb Europas nicht aufhalten. Es ist besser, sie als Chance zu sehen.