Der Hamburger setzte sich 1942 aus der Wehrmacht ab und wurde gefasst. Er überlebte die Todeszelle und den Zweiten Weltkrieg.

Ludwig Baumann weiß, warum er diesen Ordnungsfimmel hat. Der 91-Jährige streckt sich nach der Kaffeedose, die auf dem Küchenbord steht. Er schüttet etwas Pulver in das kochende Wasser - und stellt die Dose sofort wieder an ihren Platz. Ein paar Krümel sind danebengegangen, das ärgert ihn, er nimmt einen Lappen und wischt sie weg.

Nebenan im Wohnzimmer liegt nichts herum. Baumann hat alles selbst geputzt. Das Sofa hat Reinigungsstreifen eines Staubsaugers. Es riecht nach Putzmittel in Baumanns Dreizimmerwohnung in Bremen. Er hat mit seinem Psychotherapeuten über seinen Ordnungsfimmel gesprochen. Der Mann sagte ihm: "Sie müssen wohl immer Ordnung schaffen, weil innerlich zu viel Unordnung herrscht."

Manchmal träumt der Deserteur Ludwig Baumann von der Todeszelle. Er träumt, dass er entlassen werden soll. Er kommt heraus - und wird von den Wachen erschossen. Oder er träumt, dass er wieder zusammengeschlagen wird. "Es war so ein Grauen. Es verfolgt mich bis heute, vor allem im Alter." Sein Psychotherapeut hat ihm versprochen, dass er sofort kommt, wenn Baumann in Not ist.

Baumann wurde 1921 in Hamburg geboren, die Eltern leben da noch in Altona, später in Eimsbüttel, Eilbek, der Innenstadt. Seine Eltern kamen aus armen Verhältnissen, der Vater arbeitete sich zum Tabakgroßhändler hoch. Ludwig tat sich schwer in der Schule, er war Legastheniker. Seine Schwester hatte lauter Einsen. Sein Vater sagte mal: "Wärst du mal ein Mädchen geworden und deine Schwester ein Junge." Zu seiner Mutter, die nicht so streng war, hatte Ludwig ein inniges Verhältnis.

Mit 14 begann er eine Maurerlehre. Als er 15 war, kam seine Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ludwig wollte über Wochen ihren Tod nicht wahrhaben. Als er endlich verstand, was passiert war, begann er zu rebellieren, er sieht das heute als Befreiung. Er wollte nicht zur Hitler-Jugend, wollte seinem Vater nicht gehorchen. Er wurde eingezogen, zur Kriegsmarine, auch dort widersetzte er sich Befehlen. "Ich wollte auf gar keinen Fall Soldat sein."

Baumann gehörte zur Marine-Hafenkompanie Bordeaux, er sollte den Hafen bewachen. Mit Kameraden ging er ins Kino, sie sahen die Wochenschau mit Bildern vom Russland-Feldzug, von Tausenden gefangenen Russen, die im Freien übernachten mussten. Er sprach mit einem Freund. "Solche Verbrechen wollten wir nicht begehen. Wir wollten keine Menschen umbringen. Wir wollten ganz einfach leben", sagt Baumann.

Am 3. Juni 1942 brachen Baumann und sein Freund in die Waffenkammer ein, entwendeten zwei Pistolen, zwei Magazine, neun Pack Munition und eine Taschenlampe. Französische Freunde hatten ihnen Zivilkleidung und Baskenmützen gegeben. Die beiden wollten die Grenze zum unbesetzten Teil Frankreichs passieren, von dort nach Marokko und Amerika. So der Plan. Doch dann liefen sie einer Zollstreife in die Arme. Die hielt sie für Franzosen, nahm sie mit. Die Männer gingen vor ihnen, Baumann und sein Freund hätten sie erschießen können. Aber sie brachten es nicht über sich. Baumann erhebt sich vom Küchentisch. Er hat nach dem Krieg nach Unterlagen recherchiert. Vor 13 Jahren hatte er sein Todesurteil in Händen. Jetzt legt er eine Kopie auf den Tisch. Es hat gedauert, bis er die Kraft aufbrachte, das zu lesen. "Die Flucht vor der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann", schrieb der Richter. 30.000 Todesurteile hatte die Wehrmachtjustiz wegen Fahnenflucht verhängt - mindestens 20.000 wurden vollstreckt.

Baumann wurde zusammengeschlagen, weil er die Namen seiner Helfer nicht preisgab. Dann kam er in die Todeszelle. Durch das Fenster sah er Hinrichtungen. Jeden Morgen, wenn die Wachen wechselten, dachte er, jetzt sei er dran. Später hatte er das Gefühl, drei Monate gesessen zu haben, gefesselt an Händen und Füßen. Dabei waren es zehn Monate. "Man muss verdrängen, um weiterleben zu können."

Später fand er heraus, dass er schon am 20. August 1942 zu zwölf Jahren Zuchthaus "begnadigt" worden war, sein Vater hatte Beziehungen in die Marine spielen lassen. Doch erst im Frühjahr 1943 kam Baumann in das Militärgefängnis Torgau. Hunderte Deserteure saßen mit ihm. Er musste bei Hinrichtungen dabei sein, sah, wie Freunde erschossen wurden. Er musste die Sträflingsjacken der Hingerichteten auftragen, die Jacken mit Löchern und Blutflecken. Nachdem er in einem weiteren Straflager war, musste er an die Front. Im August 1944, Hitlers Russlandfeldzug war gescheitert, musste Baumann im Bewährungsbataillon 500 in Polen und der Ukraine den Rückzug decken - mit seinem Leben. "Es war ein Todeskommando", sagt er heute. Irgendwie hat er überlebt. Als die Rote Armee einrückte, konnte er nachweisen, dass er ein Regimegegner war - und durfte nach Hause, nach Hamburg.

"Wir hatten gehofft, dass unsere Handlungen nach dem Krieg anerkannt werden", sagt Baumann. In der Todeszelle hatte er in der Bibel gelesen, das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Sein Vater konnte ihn bei seiner Rückkehr nicht in die Arme nehmen. Er hatte bei den letzten freien Wahlen Hitler gewählt und dies später bereut. Aber über den Krieg sprachen sie nie.

Ludwig Baumanns Vorstrafe wegen Desertion galt weiterhin - nicht nur juristisch. In den Augen vieler in der Nachkriegsbevölkerung hatte er seine Kameraden im Stich gelassen. Auf dem Schwarzmarkt traf er auf ehemalige Soldaten. Es kam zum Streit, als Baumann von Verbrechen der Wehrmacht sprach, sie schlugen ihn zusammen, beschimpften ihn als "Dreckschwein", "Feigling" und "Kameradenschwein". Baumann ging zur Wache am Chilehaus, Anzeige erstatten. Und wurde von Polizisten, wohl ebenfalls Ex-Soldaten, erneut zusammengeschlagen.

Baumann verstand, dass Deserteure nicht dazugehörten. Und dass jene, die das Unrecht vollstreckten, nicht belangt wurden. Der Richter, der ihn zum Tode verurteilt hatte, wurde nach dem Krieg freigesprochen. Baumann verdrängte seine Vergangenheit. Er fing an zu trinken, sein Vater hatte ja Geld. Am Gänsemarkt schmiss er Lokalrunde um Lokalrunde. Sein Vater starb 1947, wohl auch vor Kummer um seinen Sohn. Innerhalb von drei Jahren vertrank Baumann das gesamte Erbe.

Er musste Geld verdienen, also verkaufte er Gardinen. Auf einer seiner Reisen kam er nach Bremen. Dort lernte er Waltraud kennen, blieb in Bremen.

Baumann trank weiter. "Ich habe mich nicht fangen können", sagt er. Bei der Geburt seines sechsten Kindes verblutete seine Frau. Baumann war mit den sechs Kindern allein. "Ich war ganz unten. Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn meine Frau nicht verstorben wäre, ob ich in der Gosse gelandet wäre, diese Frage bedrückt mich." Jede Woche fährt er mit dem Fahrrad zum Bremer Friedhof, wo seine Frau liegt. Eine neue Partnerin hat er nicht gefunden. Er sagt, dass er eine feste Bindung nicht mehr eingehen kann.

Der Tod seiner Frau 1966 war der Wendepunkt. Er sagt, es sei eine Gnade gewesen, dass er Verantwortung für seine Kinder übernehmen konnte - und für sich. Seine sechs Kinder zog er alleine groß. Er schaffte es loszukommen vom Alkohol, arbeitete als Vertreter, verkaufte gebrauchte Fernseher, später hatte er einen Job beim Jugendamt.

Als die Friedens- und Eine-Welt-Bewegung entstand, gehörte er dazu. Er war gegen Krieg, ging auf die Straße. Sein eigenes Schicksal verdrängte er.

Dann, 1986, wurde in Bremen ein Denkmal für einen "unbekannten Deserteur" errichtet. Baumann bekam mit, dass es Ärger aus der Industrie und dem Verteidigungsministerium gab: Das Denkmal müsse weg, sonst erhalte Bremen keine Rüstungsaufträge mehr, hieß es. "Mir wurde klar, dass der Krieg von früher mit dem Krieg von heute zu tun hat." Jetzt wollte er für seine Sache kämpfen. Er wollte das Unrecht, das ihm widerfahren war, öffentlich machen - und so zum Frieden beitragen.

1990 gründete er die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz". Sie waren 37 Deserteure, hoch betagt, viele gebrechlich. Baumann fuhr nach Bonn, später nach Berlin. Er sprach mit Politikern. CDU und CSU waren dagegen, dass Urteile gegen Deserteure aufgehoben werden. Die Argumente: Wenn die Urteile aufgehoben würden, werden die vielen Soldaten, die in der Truppe blieben, ins Unrecht gesetzt. Baumann kämpfte weiter, SPD, die Grünen und die Linken waren auf seiner Seite.

Sein Engagement kam nicht überall gut an. Baumann erhielt einen Brief, der Verfasser hatte ein Foto von Hitler beigefügt und drohte dem "Volksschädling Baumann" mit dem Tod. "Nehmen Sie vorher Zyankali, dies erspart Ihnen Nerven", stand dort. Ein anderer schrieb: "Sie haben keine Ehre, sondern machen mit Ihrer Feigheit noch Reklame." Und: "Ich kann Ihnen nur raten, lassen Sie sich nicht zu oft in der Öffentlichkeit sehen." Die Polizei habe ihm damals Personenschutz angeboten. Er lehnte ab. Eine Entschädigung für seine Zeit in der Todeszelle erhielt er nicht. "Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass es mir trotz des von Ihnen erlittenen Unrechts nicht möglich ist, Ihnen eine laufende Beihilfe (...) zu gewähren", schrieb die Oberfinanzdirektion Köln. Sein Fall könne "nicht als typisches NS-Unrecht gewertet werden".

Erst 2002 wurden sämtliche Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure vom Bundestag pauschal aufgehoben, erst 2009 wurden die Urteile wegen "Kriegsverrats" aufgehoben - und damit auch die Vorstrafen derer, die an der Front desertiert waren. 2002 - als die Urteile aufgehoben wurden, lebten noch zehn weitere Deserteure. "Jetzt bin ich wohl der Letzte", sagt Baumann. "Es haben so wenige überlebt, weil wir immer nur entwürdigt wurden."

Er hat seinen Kindern so viel von seinen Projekten erzählt, dass sie irgendwann nicht mehr konnten. Heute redet er nicht mehr mit ihnen darüber. Auch, weil er sie schützen will. Er erzählt von den beiden Deserteuren, die ebenfalls sehr engagiert waren, die ihre Söhne mit in den Kampf hineinzogen. Die beiden Söhne begingen Selbstmord, weil sie nicht mehr konnten.

Baumanns Kampf ist noch nicht vorbei. "Ich tue das auch für mich", sagt er. Er reist herum, hält Vorträge. Über "den Krieg von heute", er ist dagegen, dass die Bundeswehr in Afghanistan kämpft. Er ist gegen jede Art von Krieg.

Nach Hamburg, in seine Geburtsstadt, reist er regelmäßig. Er setzt sich für ein Denkmal für Deserteure ein - er möchte, dass es am Stephansplatz errichtet wird, neben dem Kriegerdenkmal, das von den Nationalsozialisten aufgestellt wurde. Die Bürgerschaft hatte im vergangenen Jahr ein solches Denkmal einstimmig beschlossen, bis Ende dieses Jahres soll der Auftrag erteilt werden. Baumann sagt, Kultursenatorin Barbara Kisseler habe ihm versprochen, dass er das Denkmal noch miterleben dürfe.