Schulsenator Ties Rabe hält aber am achtjährigen Gymnasium fest. Schüler sollen durch mehr Doppelstunden und weniger Hausaufgaben entlastet werden.

Neustadt. Schulsenator Ties Rabe (SPD) outet sich im Abendblatt-Interview als Gegner des "Turbo-Abiturs" (G8), hält aber nach der Einführung vor gut zehn Jahren an der Reform fest. Er will die Belastungen der Schüler infolge der verkürzten Schulzeit aber abfedern.

Hamburger Abendblatt: Knapp 4000 Unterstützer haben innerhalb von zwei Wochen die Petition zur Wiedereinführung von G9 am Gymnasium unterschrieben. Macht Ihnen das Angst?
Ties Rabe: Eltern fragen zu Recht, ob Schulen in Bezug auf G8 noch besser werden können. Wir müssen uns sorgfältig angucken, welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt. Vor solchen Initiativen, die etwas verbessern wollen, habe ich keine Angst. Angst hätte ich allerdings davor, wenn wir die Gymnasien abermals in eine große Schulreform stürzen mit jahrelangen Diskussionen. Das wird den Schülern sicherlich nicht guttun.

Aber genau das - zurück zum Abitur in neun Jahren am Gymnasium - ist ja das Ziel der Initiative.
Rabe: Ich sage ganz offen: Einmal G8 reicht mir. Man soll nicht unterschätzen, was es bedeutet, das wieder rückgängig zu machen. Das betrifft Lehrpläne, Stundentafeln und die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen. Die Schulen werden sich jahrelang mit anderen Dingen beschäftigen müssen als mit dem, was wirklich wichtig ist: den Unterricht weiter zu verbessern.

Finden Sie G8 gut? Hätten Sie diese Reform vor zehn Jahren auch eingeführt?
Rabe: Nein, aber ich hätte die Zahl der Unterrichtsstunden in G9 erhöht. Ich war damals kein Anhänger von G8 und sehe heute, dass es gute Gründe für und gegen G8 gibt. Aber erst recht bin ich kein Anhänger von Gewaltreformen, die das eigentlich Wichtige blockieren. Das führt nur zu jahrelangem Chaos an Schulen. Heute sind wir alle weiter und wissen, dass es besser ist, Reformen behutsam zu entwickeln.

War die Einführung von G8 in 2002 ein Fehler?
Rabe: Das ist nicht meine Lieblingsreform. Sie ist damals viel zu schnell und überstürzt eingeführt worden.

Aber ist nicht gerade das verbreitete Unbehagen an G8, das Sie ja auch teilen, die ideale Basis für eine emotionale Kampagne für G9?
Rabe: Alles in der Schulpolitik ist für eine emotionale Kampagne geeignet. Ich glaube aber, dass die Eltern in Hamburg zunehmend auch berücksichtigen, dass die scheinbar guten, schnellen Ideen in der Praxis viel Ungemach nach sich ziehen. Es lohnt sich nicht, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Es geht zwischen G8 und G9 um durchschnittlich 20 Minuten mehr Schule am Tag. Deswegen stürzen wir nicht alle Gymnasien in eine solche Reform.

Sie haben gesagt, Sie wollen Kritik an G8 ernst nehmen. Was wollen Sie denn konkret ändern?
Rabe: Wir werden uns besonders die Klassenstufen 7 und 8 ansehen, denn hier sind die zeitlichen Belastungen mit 34 Wochenstunden besonders hoch. Die Frage ist, in welchem Umfang Hausaufgaben gegeben werden und wie eine Zusammenballung von Klausuren, Tests und Hausaufgaben in bestimmten Wochen vermieden werden kann. Und wir wissen, dass Doppelstunden weniger anstrengend sind als Einzelstunden. Das sind vernünftige Mittel, um Belastungen von G8 abzufedern. Hier werden wir dafür sorgen, dass es verbindliche Vorgaben gibt.

In der Diskussion spielt immer wieder das Stichwort von der Entrümpelung der Lehrpläne eine Rolle. Ein Scheingefecht?
Rabe: Die eine Hälfte der Eltern wünscht sich diese Entrümpelung, die andere Hälfte behauptet, die Schüler lernen nicht genug in Mathematik, Naturwissenschaften oder Rechtschreibung. Es wird zunehmend schwieriger, in dieser Lage eine kluge Entscheidung zu treffen. Im Übrigen: Die Lehrpläne sind schon mehrfach angepasst worden seit der Einführung von G8. Wir müssen zudem wissen: Schule hat auch etwas mit Anstrengen zu tun. Ohne Anstrengung keine Leistung. Anstrengen ist gut, aber es darf nicht zum Leiden werden. Nach unseren Erkenntnissen ist die Belastung für unsere G8-Schüler kaum größer als die der bayerischen Gymnasiasten mit G9 seit Jahrzehnten. Wir können nicht ständig beklagen, dass bayerische Schüler besser sind und zugleich in Hamburg weniger Unterricht fordern.

Ist es unfair, dass die Stadtteilschulen jetzt auch noch das Problem Inklusion, also die gemeinsame Beschulung von behinderten und nicht-behinderten Kindern, schultern müssen?
Rabe: Unfair ist vielleicht das falsche Wort, aber es ist eine zusätzliche Herausforderung.

Das ist nun aber eine typische Politiker-Formulierung. Das heißt übersetzt: großer Mist.
Rabe: Nein. Es wäre sinnvoll gewesen, erst die Stadtteilschule ordentlich zu etablieren, um dann die Inklusion auf den Weg zu bringen. Überraschenderweise hat der Vorgängersenat anders entschieden und beides praktisch zeitgleich getan. Ich muss jetzt in voller Fahrt den rollenden Zug irgendwie reparieren. Trotz der Herausforderungen sind die Dinge zu bewältigen. Rund 1300 Schüler haben die Sonderschulen wegen des Rechts auf Inklusion verlassen und sich auf rund 2400 Klassen der Grund- und Stadtteilschulen verteilt. Im Durchschnitt ist für Stadtteilschulklassen rechnerisch weniger als ein Sonderschüler dazugekommen. In einigen Stadtteilen können das allerdings auch zwei und mehr pro Klasse sein.

Ist alles also gar nicht so schlimm?
Rabe: Es kommt ein verblüffender Punkt hinzu. Während die Sonderschulen von 1300 Abgängen berichten, behaupten die allgemeinen Schulen, dass im gleichen Zeitraum ihre Zahl an Sonderschülern um 3300 gestiegen sei. Das zeigt eine deutliche Maßstabs-Verschiebung.

Inwiefern?
Rabe: Es gibt klare Indizien, dass viele Schüler, die an Grund- und Stadtteilschulen schon immer beschult worden sind, jetzt plötzlich als Sonderschüler eingeschätzt werden. Das hat zur Folge, dass es mehr Fördermittel gibt. Diese Umetikettierung betrifft Kinder mit Defiziten in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale Entwicklung.

Brauchen die Schulen mehr Personal?
Rabe: Langfristig ist die Personalausstattung ausreichend. Sie ist doppelt so hoch wie in anderen Bundesländern. Ich weigere mich zu glauben, dass Hamburger Lehrer die Inklusion nicht so gut hinbekommen wie die schleswig-holsteinischen Lehrer, die nur die Hälfte der Mittel bekommen. Anfangsphasen sind häufig schwierig, deswegen müssen wir uns das noch einmal genau ansehen.

Zu den größten Projekten Ihres Hauses gehört das Bauprogramm an Schulen. Schaffen Sie es, die für dieses Jahr im Etat vorgesehenen 300 Millionen Euro auch tatsächlich zu verbauen?
Rabe: Wir geben uns große Mühe. Aber ich fürchte, das schaffen wir nicht. Das hat übrigens noch nie ein Senat geschafft.

Wo liegen die Probleme?
Rabe: Das ist ein ärgerliches Thema. Wir müssen dringend mehr bauen und sanieren. Deswegen stellen wir enorme Mittel bereit und haben den Schulentwicklungsplan und den Landesrahmenplan Bau entwickelt, damit klar ist, wo wann gebaut werden soll. Jetzt sind die Ingenieure dran. Es hat sich gezeigt, dass die Umsetzung vor Ort schwieriger ist als gedacht. Wegen der boomenden Baukonjunktur sind die Hamburger Betriebe sehr ausgelastet, sodass wir Kapazitätsprobleme bekommen.

Sie finden also die Baufirmen nicht?
Rabe: Nicht immer. Darüber hinaus haben wir jede Menge Planungsschwierigkeiten. Da fehlt es an Flächen für die Erweiterung von Schulen, da ist ein Bebauungsplanverfahren erforderlich, da stimmen die Verkehrswege nicht. Über kurz oder lang werden wir die gewaltigen Mittel, die wir bereitstellen, ausgeben können. Aber im Moment stecken wir in der Planungsphase fest. Wir hätten schon viel weiter sein können, wenn die Vorgängerregierung die entsprechenden Pläne erarbeitet hätte, aber da ist viel zu wenig geschehen.

Die Haushaltsplanung für den Schulbau haben Sie doch im vergangenen Jahr selbst erstellt. Die jetzigen Verzögerungen lassen sich ja wohl schwer der Vorgängerregierung anlasten.
Rabe: Doch. Zwischen Auftrag und Fertigstellung vergehen drei Jahre. Die Auswirkungen reichen bis Ende 2013. Die Planung am grünen Tisch haben wir jetzt fertig. Sie sieht zum Beispiel vor, dass ein Gymnasium von 2014 bis 2016 neue Klassenräume bekommt und dafür sechs Millionen Euro ausgeben darf. Im Detail muss dann aber geschaut werden, wo die Räume entstehen, ob womöglich ein Blindgänger in der Erde steckt oder ein Parkplatz im Weg ist, ob für die Bebauungsplanung die Bezirksversammlung beteiligt werden muss. Mit diesen Details befassen wir uns jetzt. Dafür haben wir Hierarchien abgebaut und viel Verantwortung auf die Beteiligten vor Ort übertragen. Die Verfahren sind schlanker geworden, und darauf setze ich.

Können Sie sagen, wie viel Geld liegen bleiben wird?
Rabe: Nein. Auch in der Vergangenheit sind im Schulbau Mittel liegen geblieben. Das ist kein Ruhmesblatt der Hamburger Schulpolitik, aber nichts Neues. Um die Dimension klarzumachen: Während der Amtszeit der CDU-Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig sind in der Regel 70 bis 80 Millionen Euro für Schulbau ausgegeben worden. Die 300 Millionen Euro, die wir uns vorgenommen haben, wären das Vierfache. Auch wenn wir diese Summe nicht erreichen, wäre das dennoch sehr viel mehr als bisher.

Sie sind in Kürze zwei Jahre im Amt...
Rabe: ...die fühlen sich an wie acht Jahre.

Was war in dieser ersten Phase Ihr wichtigster Erfolg?
Rabe: Am meisten freue ich mich über den ungewöhnlichen Zuspruch zum Ausbau der Ganztagsschulen von den Schulen selbst. Da gab es zwischendurch sehr viel Unruhe, es wurde sogar mit einer Volkspetition gedroht. Jetzt geht der Ausbau mit einer Geschwindigkeit voran, die in jeder Hinsicht ungewöhnlich ist - eine gute Leistung.

Und Ihr größter Fehler?
Rabe: Das müssen die Wählerinnen und Wähler entscheiden.

Sie waren ein Jahr lang Präsident der Kultusministerkonferenz. Wie sinnvoll ist Bildungsföderalismus heute noch?
Rabe: Ich habe ihn während dieses Jahres eher lieb gewonnen. Dabei bin ich als Skeptiker des Bildungsföderalismus in die Präsidentschaft gegangen. Die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung hat aber gezeigt: Bildungspolitische Anliegen auf Bundesebene lösen zu wollen, bedeutet vielfach, sie auf Jahre zu vertagen. Da ist Föderalismus schneller handlungsfähig. Und wir müssen erkennen, dass es in vielen Ländern eine gewachsene Schulkultur gibt. Diese Ausprägungen kann man nicht einfach nivellieren. Die Schulkultur einer Grundschule auf der Schwäbischen Alb lässt sich nicht auf Berlin-Marzahn übertragen. Wir brauchen einheitliche Anforderungen, aber bei den Wegen dahin sollten wir uns hüten zu glauben, dass es nur einen Weg gibt, der für Garmisch-Partenkirchen und Hamburg-Ottensen gleichermaßen passt.

Was ist die wichtigste Aufgabe, die in Zukunft im deutschen Bildungswesen zu meistern ist?
Rabe: Wir sind gut beraten, stärker den Unterricht in den Blick zu nehmen und die Frage, wie man ihn verbessern kann. Die Wissenschaft und Politik entdecken, was Eltern und Lehrer schon lange wissen: Entscheidend sind nicht die Schulform und -struktur, wie sie organisiert sind und welches Etikett draufsteht, sondern was Frau Schmidt im Biologieunterricht macht und wie Herr Roth Englisch unterrichtet. Wenn wir uns darauf konzentrieren, werden wir mehr für den Bildungserfolg tun. Da erwarte ich große Erfolge.