Verkürzte Schulzeiten und verschulte Studiengänge schießen über das gute Ziel hinaus

Wenn sich die Deutschen etwas vornehmen, dann machen sie es gern gründlich. Als vor gut einem Jahrzehnt die Diskussion aufbrandete über eine Jugend, die in Sachen Ausbildung sowohl leistungs- als auch altersmäßig abgehängt zu werden drohte, da haben sich die Reformer entsprechend berufen gefühlt, nicht zu kleckern, sondern zu klotzen. Das Ziel schien klar: Der Nachwuchs sollte möglichst rasch und gut ausgebildet auf den Arbeitsmarkt gelangen, um auch international konkurrenzfähig zu sein - anstatt an Schulen und Universitäten Lebenszeit zu vertrödeln. Mehr Exzellenz, mehr Qualität in der Breite und mehr Abschlüsse waren gefordert, und das nicht zu Unrecht. Doch beide Reformen zusammen - die Schulzeitverkürzung an den Gymnasien und die Umstellung des Hochschulbetriebs auf die Bachelor- und Masterstudiengänge - haben zu einer Entwicklung geführt, die mit einem umfassenden Bildungsideal nur noch wenig zu tun haben. Man kann auch sagen: Das Pendel hat sich in die richtige Richtung bewegt, doch der Ausschlag war - wie so oft - zu stark.

Deshalb ist es an der Zeit, die Frage zu stellen: Was hat die Gesellschaft eigentlich davon, wenn Kinder erst zielorientiert durch die Schulzeit hetzen, um dann ebenso sehr auf das Ergebnis bedacht, in kürzeren, verschulten Studiengängen die Hochschulen zu durchlaufen und mit 22 Jahren als fertige Akademiker auf den Arbeitsmarkt zu drängen - auf diesem Weg aber kaum Lebenserfahrung sammeln und ihre Persönlichkeit ausbilden konnten? Wie verändert es unsere Gesellschaft? Und wollen wir das?

Schüler und Studenten werden heute in Deutschland stark auf Zweckorientierung getrimmt. Schon die Jüngeren lernen, in einem engen Korsett aus langen Schultagen, vielen Hausaufgaben und einer Klausurfolge, die sich regelmäßig in wenigen Wochen zusammendrängt, fachbezogene Leistung abzurufen. Nicht nur in Hamburg lenken viele Eltern derzeit den Blick auf das, was die Schüler dabei verlieren: die Muße, auch soziale Kompetenz zu entwickeln, und die Zeit zur Reflexion, die Bildung ebenfalls ausmachen sollte.

Während Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) den Bologna-Prozess an den Universitäten als "europäische Erfolgsgeschichte" bezeichnet, sehen die Hochschulrektoren dies ein wenig anders. Zu verschult, lautet die Kritik. Ein Bachelor-Abschluss bereite zudem oft nicht ausreichend auf den Beruf vor. Kurzum: Die Unternehmen brauchten Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen.

Auch in Hamburg kommt die Kritik aus berufenem Munde - von einem Mann, der sowohl Bildungstheoretiker als auch Bildungspraktiker ist: Der Hamburger Universitätspräsident Dieter Lenzen, von Hause aus Erziehungswissenschaftler, sprach jüngst von einem hausgemachten Problem. Durch die Schulzeitverkürzung und die gleichzeitige Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge seien die Studierenden sehr jung, wenn sie an die Hochschulen kämen, und stark auf die Inhalte ihrer Fächer fixiert. Sie hätten kaum Zeit und die Gelegenheit, das zu nutzen, wozu Universitäten einmal gedacht waren: durch die Befassung mit Wissenschaft zu Persönlichkeiten zu werden.

Also: Bei allem notwendigen Willen zur Leistung sollte es auch den Mut zur Muße geben. Damit Schüler und Studenten die Gelegenheit haben, sich über den Lehrstoff hinaus Gedanken zu machen und zu nachdenklichen, selbstbestimmten Erwachsenen zu werden. Mehr Entschleunigung und weniger Überforderung - das gilt übrigens nicht nur an Schulen. Das können sich auch die Eltern zu Herzen nehmen, die schon die Kleinsten an jedem Nachmittag der Woche zu einem anderen Musik- oder Sportunterricht schicken oder sie mit drei Jahren Chinesisch lernen lassen.