Vor 50 Jahren wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Gert Boysen war bei der einwöchigen Vorbereitungsreise durch Frankreich dabei.

Bergstedt/Berlin. Wenn Bundespräsident Joachim Gauck an diesem Dienstag in Berlin die Festrede zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages hält, wird Gert Boysen einer von 2500 geladenen Gästen sein, einer von 1000 Franzosen und Deutschen, die sich in den vergangenen 50 Jahren in besonderer Weise für das deutsch-französische Verhältnis engagiert haben. Für die persönliche Einladungskarte des Bundespräsidenten hat der Hamburger einen Platz in seinem Buch der Erinnerungen frei gemacht.

Mehr als 50 Jahre sind die ältesten Bilder in Boysens Album alt. "Aber ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen", sagt der 74-Jährige, während er in seinem Wohnzimmer in Bergstedt die leicht vergilbten Seiten umblättert. Es war im Sommer 1962, Gert Boysen damals 24 Jahre alt und seit seiner frühen Jugend ein Frankreichfreund. Wie es zu seiner Faszination für alles Französische gekommen ist, kann Boysen heute nicht mehr sagen - aber dass er unbedingt dabei sein wollte, als er erfuhr, dass Kanzler Konrad Adenauer zu einem Staatsbesuch nach Paris reisen wollte. Wie wichtig der Besuch werden sollte und dass er nur ein halbes Jahr später in den Élysée-Vertrag, den bis heute geltenden deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, münden sollte, wusste Boysen damals noch nicht. Aber dass er etwas Wichtiges verpassen würde, wenn es ihm nicht gelänge, die Reise zu begleiten, spürte er. "Es war ein nahezu kindischer Wunsch", sagt Boysen heute. Aber er ließ den jungen CDU-Politiker nicht los; und so rief er beim Bundespresseamt an und landete am Apparat von Hans Stercken, damals Referent für West- und Südeuropa. Ihm erzählte Boysen, dass er die Reise des Kanzlers gerne begleiten würde - und sehr zur Überraschung Boysens willigte dieser ein. Der Hamburger sollte sich am 2. Juli im Hotel de Crillon in Paris melden, dort würde er alles Weitere erfahren.

Und so setzte sich der junge Hanseat in seinen hellen Opel und fuhr die 922 Kilometer in die französische Hauptstadt. Die Hotelrechnung hat Boysen aufbewahrt. "Damals konnte man sich eine Nacht dort durchaus noch leisten", sagt er.

Die erste Etappe des Staatsbesuches führte die Delegation schließlich in den Norden Frankreichs. Die mehrstündige Fahrt ist eine der wenigen Erinnerungen, die Boysen nicht gerne wieder hervorholt. Dutzende schwarze Limousinen seien vor ihm die Landstraßen entlanggefahren. Boysen, obwohl das Protokoll das nicht erlaubt hätte, fuhr hinterher oder versuchte das zumindest. "Die Autos waren viel schneller, als ich das mit meinem Opel eigentlich hätte sein können", sagt Boysen und lächelt dann doch. Er habe eine Heidenangst gehabt, vor allem in den Kurven. Doch der junge Hamburger und sein Auto überstanden die Fahrt unbeschädigt.

Inzwischen gibt es den Opel lange nicht mehr, und vielleicht hätte Boysen das Auto sogar ganz vergessen, wenn es da nicht dieses eine Foto gäbe.

Boysen ist inzwischen in der Mitte des Fotoalbums angekommen, hat von der perfekten Inszenierung des Besuches Adenauers gesprochen, vom Besuch im Chateau de la Bride bei Bordeaux, in dem Adenauer auf die Mutter eines im Zweiten Weltkrieg gefallenen Franzosen getroffen ist, die den Bundeskanzler und seinen Außenminister mit "ergreifender Herzlichkeit" empfangen hat. Dass die Frau zu den Nachfahren des berühmten französischen Staatstheoretikers Montesquieu gehörte, war Teil einer Inszenierung, die manche Kritiker des Besuches bespöttelten. Boysen gehört - wie etwa der Journalist Josef Müller-Marein, der die Reise damals für die "Zeit" begleitete - zu denjenigen, die das Geniale in der Regie sahen. Charles de Gaulle selbst soll die Reise so geplant haben, voller Symbole, voll Pathos.

In der Mitte führte der einwöchige Staatsbesuch die Gruppe unter anderem in die Champagne. Dort, in der Nähe der Stadt Mourmelon-le-Grand, nahmen de Gaulle und sein Staatsgast eine deutsch-französische Militärparade ab. Im Hintergrund der Bilder, die das Bundespresseamt damals machte, sieht man einen hellen Wagen stehen. Ein kleiner Fehler in der Inszenierung de Gaulles. Es ist Boysens Auto. Da dieser nicht zur offiziellen Entourage gehörte, durfte er nur auf dem Feld parken, und so entstand ein Foto, das Gert Boysen beinahe 50 Jahre nach dem Staatsbesuch den Brief eines französischen Wissenschaftlers bescherte - und eine Einladung zu den offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages in Berlin.

"Sind Sie der Mann mit dem weißen Auto?", schrieb der Historiker Guy Marival im Herbst 2011 nach Bergstedt. Marival und sein Team versuchen das Gedenken an die Soldaten des Ersten Weltkrieges lebendig zu halten. Sie erforschen die großen Kriegsdenkmäler Frankreichs - darunter auch den Soldatenfriedhof bei Cerny. Dort, so steht es auf den Informationstafeln am Eingang zu den Grabmälern, sollen de Gaulle und Adenauer auf ihrer Reise durch Frankreich haltgemacht haben. Aber die Wissenschaftler finden dafür keinen Beleg. Boysen war der Mann mit dem weißen Auto, doch helfen konnte er nicht: Keines seiner Bilder, keine seiner Unterlagen belegt den Besuch Adenauers auf dem Soldatenfriedhof. Aber weil die französischen Wissenschaftler gründlich sind, schreiben sie über Boysen in ihrer historischen Zeitung und auf ihrer Internetseite. Nach ihren Recherchen ist Boysen immerhin einer der letzten Deutschen, die die Staatsreise begleitet haben, einer der letzten Augenzeugen einer Freundschaft zwischen zwei Staatsmännern, die sich nichts mehr wünschten, als ihre beiden Völker zu versöhnen. Boysen vermutet, dass die Organisatoren der Feiern zum Élysée-Vertrag über diesen Artikel auf ihn aufmerksam geworden sind. In offiziellen Aufzeichnungen, so glaubt Boysen, tauche er als ungewöhnlicher Gast der Reise sicher nicht auf.

Bevor er das Album mit den Erinnerungsstücken schließt, erzählt Boysen noch von dem Moment, der die meisten Teilnehmer des Staatsbesuches besonders ergriffen hat: dem Gottesdienst in der Kathedrale von Reims, jener Stadt, die in beiden Weltkriegen so hart getroffen wurde wie kaum eine andere. Adenauers Kniefall ist berühmt, das gemeinsame Gebet der Staatsmänner auch. Damals, sagt Boysen, habe er natürlich keinen Sitzplatz gehabt. Er habe an einer Säule gestanden, damit aber freien Blick auf Adenauer und de Gaulle gehabt. Damit, dass er dem Bundespräsidenten Joachim Gauck an diesem Dienstag auch so nah kommen wird, ist nicht zu rechnen. Aber eines ist Gert Boysen: ganz offiziell eingeladen.