Fleischesser reagieren immer noch mit ungläubigem Erstaunen auf Vegetarier

1094 - wenn es jemals eine Zahl gegeben hat, die es verdient, Zahl des Tages genannt zu werden, dann diese. Man schwankt zwischen Ungläubig- und Übelkeit bei der bloßen Vorstellung, dass tatsächlich statistisch gesehen jeder Deutsche so viele Tiere in seinem Leben verspeist. 1094. Man stellt sich unwillkürlich einen Stall, was für einen Stall!, mit all den Hühnern, Rindern und Schweinen vor, und ich muss an ein Referat während der Studienzeit denken. Damals sprach der Vortragende über die Aufzucht und Schlachtung von Tieren in Deutschland. Nach seiner Dia-Schau war die Schlange an der Salatbar in der Mensa so groß wie lange nicht.

Nicht Fisch, nicht Fleisch? Die Frage ist zwar wichtiger geworden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, aus ideologischen, aus gesundheitlichen, aus ökologischen wie aus ökonomischen Gründen. Wer aber glaubt, es habe sich wirklich grundsätzlich etwas in der Ernährung der Deutschen geändert, muss nur selbst einmal ein paar Monate auf Fisch und Fleisch verzichten. Er wird feststellen: Nach wie vor sorgt man in unserem Land mit einem Satz wie "Ich bin Vegetarier" vor allem für Erstaunen, Verblüffung und ratlose Blicke. Selbstverständlichkeit sieht anders aus.

Nun soll hier nicht so getan werden, als hätte sich an der Auswahl vegetarischer Speisen in Restaurants, Kantinen etc. nichts verbessert. Während man Anfang der 90er-Jahre noch damit rechnen musste, auf die Frage: "Haben Sie auch etwas Vegetarisches?", einen Teller mit Gemüse, Kartoffeln und Sauce hollandaise serviert zu bekommen, gibt es heute Nudeln mit Pilzen (selbst in guten Restaurants in acht von zehn Fällen), Sellerieschnitzel und Tofu-Burger, und glücklicherweise ist auch die stark vegetarische thailändische und indische Küche hierzulande weit verbreitet. Trotzdem kann man, übrigens gerade in Sternerestaurants, immer wieder böse Überraschungen erleben, wenn man sich beschämt als Vegetarier zu erkennen gibt. Meine drei (Lieblings-)Reaktionen:

"Da hätten Sie vorher anrufen müssen."

"Auch kein Fisch?"

"Und wenn wir Ihnen statt der Gans ein Schweinefilet bringen?"

Fälle wie der Hamburger Koch, der an den Tisch kommt, um sich selbst zumindest als Teilzeit-Vegetarier zu offenbaren, sind selten.

Soll heißen: In Deutschland heißt es nach wie vor "Fisch oder Fleisch" statt "nicht Fisch, nicht Fleisch". Ein Menü ohne das eine oder das andere? Undenkbar! Warum eigentlich? Was treibt uns an, pro Kopf und Jahr 60 Kilogramm Fleisch zu verzehren? Warum ist in anderen, insbesondere asiatischen Ländern, schon fast jeder Dritte Vegetarier, und bei uns sind es noch nicht einmal zwei Prozent? Das liegt zum einen an der ständigen Verfügbarkeit von Fleisch, an sehr niedrigen Preisen und der großen Distanz zwischen Endverbraucher und Originalprodukt, sprich Tier. Zum anderen ist es immer noch deutlich schwieriger, manchmal gar teurer, sich vegetarisch zu ernähren, ob nun in der eigenen Küche oder in einem Restaurant. Spitzenköche geben unumwunden zu, dass Gäste, die weder Fisch noch Fleisch essen, für sie die größte Herausforderung sind.

Das Hauptproblem aber bleibt, dass Fleischesser oft ein falsches Bild von Vegetariern - umgekehrt gilt das natürlich manchmal auch - haben. Wenn Tischnachbarn hören, dass man auf Fleisch verzichtet, sagen sie zum Beispiel oft: "Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich welches esse." Nein, liebe Fleischverzehrer, es stört uns nicht, das ist anders als zwischen den Rauchern und den Nichtrauchern. Und wir brauchen auch keine Sonderbehandlung, notfalls lassen wir einfach Fleisch oder Fisch weg. Nur eins wäre schön: Wenn vegetarisch essen im Jahr 2013 genauso normal wäre wie ein Menü mit Fisch oder Fleisch.