2012 ist das Jahr der Bürgerproteste gewesen - und nicht immer geht es nur um das Gemeinwohl. Rund 100 Bürgerbegehren sind zurzeit anhängig.

Hamburg. Das vergangene Jahr 2012 war auch das Jahr des mündigen Bürgers. Gelegenheit, sich einzumischen, gab und gibt es reichlich, rund 100 Bürgerbegehren sind zurzeit in Hamburg noch anhängig. Kaum ein Bereich wird ausgelassen, der mündige Bürger wird von der Politik ermutigt, seine Meinung kundzutun: "Sie wollen sich im Internet an der Gestaltung unserer Stadt beteiligen und beim aktuellen politischen Geschehen mitdiskutieren? Dann sind Sie hier richtig!", heißt es auf der Seite hamburg.de. "Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen wissen aus ihrer Alltagserfahrung, wo aus ihrer Sicht Verbesserungspotenziale sind."

Eine moderne Stadt sollte die Kreativität ihrer Bürgerinnen und Bürger nutzen. Die Forderung nach mehr Transparenz von Verwaltungshandeln ist daher nicht mehr wegzudenken. Mit der wachsenden Bedeutung von sozialen Netzwerken hat sich die Kommunikationskultur der Bürger verändert: So glaubt nach einer repräsentativen Studie von SAS Deutschland und dem Meinungsforschungsinstitut Forsa eine Mehrheit von 71 Prozent, dass die Zufriedenheit mit der öffentlichen Verwaltung steigt, wenn Bürger mehr Möglichkeiten hätten, mit Behörden und Ämtern über Internet und Social Media in Kontakt zu treten. Dies gelte - unabhängig von Geschlecht und Religionszugehörigkeit - für alle Bevölkerungsgruppen; im Besonderen aber für die unter 30-Jährigen, bei denen sogar 86 Prozent zufriedener wären.

Doch inzwischen mehren sich - wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand vorgetragen - die Stimmen derjenigen, denen die sogenannten Wutbürger zunehmend ein Dorn im Auge sind: "Man könnte auch frei nach Goethe sagen: Die Geister, die wir ermuntert haben, werden wir nun nicht mehr los", sagt ein altgedienter Wandsbeker SPD-Bezirksabgeordneter. Er wisse längst "mehr als nur von einer Handvoll Leute, nicht nur in der Verwaltung", die "extrem genervt" sei. Die gute Absicht - vor allem die Realisierung einiger dringend benötigter Wohnungsbauprojekte durch frühzeitige Bürgerbeteiligung zu beschleunigen - werde zunehmend ins Gegenteil verkehrt. So habe sich die Bebauung auf dem Gelände des ehemaligen Concordia-Stadions in Marienthal durch den Einfluss der Bürgerinitiative "Schützt das Wandsbeker Gehölz und die Struktur von Marienthal" massiv verzögert, auch wenn ein praktikabler Kompromiss gefunden worden sei.

Ein CDU-Abgeordneter aus demselben Bezirk klagt: "Wutbürger sind immer nur eins: dagegen." Gleichwohl fordern seine Parteifreunde im Bezirk Nord bezüglich der geplanten Busbeschleunigungsspuren wiederum deutlich mehr Transparenz: "Die Bürger müssen angemessen an den Planungen beteiligt und mit ihren Sorgen angehört werden", sagt der Bezirksabgeordnete Christoph Ploß. Unterstützung erhält er dafür sogar vom Verkehrsexperten der Grünen, Martin Bill: "Es würde einem so umfangreichen Vorhaben wie dem Busbeschleunigungsprogramm nur nützen, wenn die Öffentlichkeit und damit die betroffenen Bürger in die Planungen einbezogen würden." Es scheint also, als ob die direkte Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungs(-findungs)-prozessen immer häufiger zum Kalkül gehört. Denn die Politik hat offenbar erkannt, dass es den Direktdemokraten oft nicht um gesellschaftspolitisch relevante Proteste geht, sondern dass sie in erster Linie ihr unmittelbares Lebensumfeld als Tummelplatz für ihr Engagement entdeckt haben.

Auch der Protest gegen den Bau des ersten innerstädtischen Ikea-Möbelhauses schwelt noch, obwohl die Befürworter des Projekts gesiegt und die Bauarbeiten längst begonnen haben. Doch der Recht-auf-Stadt-Aktivist und Journalist Christoph Twickel wird nicht müde zu warnen: Ikea werde zum "Turbo der ökonomischen Aufwertung", die Verkehrsprobleme seien nach wie vor ungelöst. "Ikea experimentiert mit dem Stadtteil, es steigen Mieten, Abgase, Lärm und Stau." Rund 50 Prozent der Kunden werden mit Bussen, Bahnen oder zu Fuß kommen, glaubt man bei Ikea. Für sie soll es ein Möbeltaxi-System geben sowie Elektrofahrräder mit Anhängern zum Leihen. Mit Verkehrsproblemen rechne man nicht, das hätten Gutachten gezeigt. Im Übrigen, so Sprecherin Simone Settergren, habe Ikea großes Interesse an einem guten Verkehrsfluss: "Kunden, die im Stau stehen, kommen kein zweites Mal."

Auch der Umzug des Sicherungsverwahrten Jens B. von Jenfeld nach Moorburg wurde von massiven Protesten begleitet. Zwar ist die neue Bleibe des Mannes weit von Schulen und Kindertagesstätten entfernt, doch fürchten die Moorburger, dass ihnen trotz des in Jenfeld bereits erprobten Sicherheitskonzepts eine massive Gefahr vor die Tür gesetzt werde. Viele der knapp 800 Einwohner fühlten sich überrumpelt, was die Opposition in der Bürgerschaft sofort zum Anlass nahm, diese Senatsentscheidung mit dem Hinweis darauf zu kritisieren, "dass dieser Beschluss verkündet worden sei, ohne dass die Anwohner sich zuvor hätten äußern können". Wobei die Moorburger sich vermutlich vehement gegen die Unterbringung eines oder mehrerer Sicherungsverwahrten in ihrem Stadtteil ausgesprochen hätten.

Nach einer Untersuchung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung ist der "typische Wutbürger" älter als 46 Jahre, besitzt einen höheren Bildungsgrad (50 Prozent der Befragten haben Abitur), ist wirtschaftlich ordentlich bis gut gestellt, traut der hierzulande praktizierten Demokratie nur sehr bedingt (68 Prozent der Befragten) und hält sich selbst für einen guten Demokraten (96 Prozent). Doch häufig entspreche das Protestverhalten dem St.-Florian-Prinzip: Ökostrom ja, aber Windkrafträder in Sichtweite nein. Wirtschaftswachstum ja, aber nur, wenn dafür kein Apfelbaum fallen muss; bezahlbarer Wohnraum gerne, aber nicht auf dem Grundstück gegenüber - und auch fröhliche Kinder sind nur so lange das höchste Gut der Welt, bis sie nicht nebenan spielen.

Als zweifelhafter wie auch peinlicher Höhepunkt der zahlreichen Bürgerbegehren gilt bis heute der Anwohnerprotest gegen ein geplantes Hospiz in Harburg-Langenbek am Blättnerring. Die Entrüstung gegen das "Sterben vor der eigenen Haustür" war groß, das Medienecho gewaltig. Erstaunlicherweise reagierte jedoch ausgerechnet die Pastorin Frauke Niejahr, die seit vielen Jahren für den Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost hauptamtlich für die Hospizarbeit zuständig ist, gelassen. "Dass jemand, der unfreiwillig mit den Themen Tod, Sterben und Trauer, mit dem Abschiednehmen konfrontiert ist, erst einmal sehr reserviert oder mit Widerstand reagiert, finde ich normal", sagte sie dem Abendblatt. "Der Tod vorm eigenen Gartenzaun erschreckt, man will sich den Tod vom Leib halten, obwohl man eigentlich weiß, dass der Tod immer ein Teil unseres normalen Lebens sein wird." Allein schon die Idee eines Ortes, wo nur gestorben wird, könne die Fantasie der Anwohner beflügelt haben. "Was sich in diesem Protest ausdrückte, ist die Angst vor dem Tod", so Niejahr, "aber wir können den Tod nicht auslagern, als hätten wir damit nichts zu tun. Sterbende gehören zur Gesellschaft wie Gesunde."

Laut den Forschungsergebnissen der Göttinger Politologen besäßen die wenigsten Protestmotive gesellschaftliche Relevanz. Stattdessen würden sie zumeist von ökonomischen Aspekten getragen. Wutbürger versuchten also lediglich, als direkt Betroffene Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren oder Politiker- und Behördenentscheidungen zu nehmen. Bemerkenswert: 90 Prozent der Wortführer rekrutierten sich aus Haus- und Grundeigentümern.

Die Forschungsgruppe schließt daraus, dass die jeweiligen Proteste häufig nur der Bewahrung von erarbeiteten oder ererbten materiellen Werten dienen - ein Fazit, mit dem "Wutbürger" jedoch keinesfalls einverstanden sein dürften, weder in Hamburg noch anderswo.