Stadt- oder Landmensch? Wer beiden Kategorien nicht entspricht, passt genau hierher. Einer der begehrtesten Stadtteile Hamburgs.

Die medizinische Versorgung ist wirklich überragend. Fünf Apotheken allein am Tibarg, 82 niedergelassene Ärzte verteilt über den Stadtteil. Niendorf. In den besten Jahren ist man hier, leicht angegraut, aber lebensfroh, etwas gealtert, aber aktiv. So ist die Apothekendichte überzeugender als die der Kneipen und die Zahl altersbedingter Leiden zumindest gefühlt höher als die von Kinderkrankheiten. Aber das stört hier nur wenige, denn die Menschen lieben es, hier zu leben, Freunde zu haben statt einfach nur Nachbarn, Stadt und Land gleichermaßen genießen zu können. Niendorf - Paradies des gepflegten Mittelstands.

Wir befinden uns im "Neuen Dorf", wie der Stadtteil übersetzt heißt. Und das, ein Dorf, war Niendorf die weitaus meiste Zeit. Am Tibarg opulente Bauernhöfe samt Misthaufen; die Gebäude mit Reet gedeckt; am Straßenrand einladende Gasthöfe. "Zeitungen gab es kaum, abgesehen vom ,Fremdenblatt', das ab 1907 mit der Straßenbahn aus Hamburg kam", schreibt Stadtteilchronist Horst Moldenhauer. Nicht einmal 100 Jahre liegt die Zeit der Misthaufen und reetgedeckten Häuser zurück. Das "Neue Dorf" ging im Juli 1943 bei einem verheerenden Bombenangriff unter, elf Menschen starben, 89 Gebäude brannten aus.

Schon immer beliebtes Ausflugsziel

Den Angriffen alliierter Piloten folgte mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder eine Zeit, in der man sich auch hier Nostalgie nicht leistete. Immer mehr Menschen wollten hierher, und der Flughafen, der in Niendorf an die Gärten grenzt, expandierte Jahr um Jahr. Und so ist heute der bäuerliche Charme des vergangenen 20. Jahrhunderts nur noch mit viel Vorstellungskraft erahnbar. Oder im Frühjahr bei Westwind. Dann riecht die Luft schon mal nach Land und nach früher. Das ist aber wirklich selten, sonst ist's hier eher klar und frisch.

Für Hamburg war Niendorf einst ein Ort der Sommerfrische. Johann Theodor Merck, Chef der Hamburg-Amerika-Linie, ließ sich im Gehege eine Villa bauen. Ganz in der Nähe genoss die Bankiersfamilie Berenberg-Gossler das Leben in ihrer, na ja, Jagdhütte. Und da war auch noch Hermann F.M. Mutzenbecher, der die Hamburg-Mannheimer erfunden hatte und auch eine Villa im Gehege hochziehen ließ. Die bröckelt jetzt gut sichtbar so vor sich hin, während die alte Merck-Villa hübsch saniert wurde, leider den Blicken weitgehend entzogen durch Zaun und Grün.

Damals wie heute kam auch der gemeine Städter gern zu Besuch. "In der warmen Jahreszeit", schreibt Stadtteilchronist Moldenhauer, "wurden die Lokalitäten gern von Hamburgern besucht. Zu Pfingsten gab es durch die vielen Kutschen manch einen Verkehrsstau."

An allen Ecken wird gebaut

Den gibt es heute nahezu täglich. Dank der Berufspendler und trotz der 1985 eingeweihten U-Bahn (Linie 2) und der europaweit meist genutzten Buslinie (5). Knapp 40 000 Menschen leben hier, vor allem in Ein- und Zweifamilienhäusern. Dass Niendorf noch immer einer der begehrtesten Stadtteile ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass nahezu jede Baulücke, die sich auftut, geschlossen wird.

In Gärten entstehen schmucke Häuschen, auf größeren Lücken Mehrfamilieneinheiten, alte Gebäude werden plattgemacht, um gleich neue hochzuziehen. Hier lebt es sich eben gut. Wer beim Test "Sind Sie ein Citytyp oder ein Landtyp?" gleich in beiden Kategorien durchfällt, weder dem einen, noch dem anderen Typus entspricht, der ist hier genau richtig.

Man kennt und mag sich, lebt ruhig und dennoch recht citynah, kauft - beispielsweise am zentral gelegenen Tibarg - gut ein, hat die perfekte Erholung und das intakte Vereinsleben eines Vorortes. Es gibt den Bürgerverein und die Geschichtswerkstatt, Bürgerhaus und Zukunftsrat, Freiwillige Feuerwehr und Liedertafel, den kleinen Minigolfklub und den großen Turn- und Sportverein.

Die Kinder kehren als Eltern zurück

Aber noch mal einen Schritt zurück: Unter anderem wegen des Baubooms vor rund 30 Jahren, als es Scharen junger Familien hierher zog, ist Niendorf jetzt ein wenig in die Jahre gekommen. Die Kinder, inzwischen selbst Eltern, sind häufig weggezogen, die Eltern naturgemäß etwas ergraut - aber immer noch gerne hier. Von Einwohnerwellen sprechen Stadtsoziologen gern, wenn sie den Trend beschreiben. Einen Trend, den Experten in wenigen Jahrzehnten heute sehr jungen Stadtteilen wie Hoheluft-West vorhersagen. Wenn sie recht behalten, dürfte sich Niendorf umgekehrt wieder deutlich verjüngen.

Aber noch ist die größte Gruppe die der 41- bis 65-Jährigen mit rund 14 000 Menschen. Und die Gruppe derer, die älter sind als 66, entspricht in etwa der der bis zu 28-Jährigen. Der Anteil der Zuwanderer ist recht gering; 37 000 haben hier einen deutschen Pass. Im Vergleich nehmen sich die ausländischen Mitbürger zahlenmäßig eher bescheiden aus: 228 Türken, 212 Polen, einen Esten und einen Turkmenen beispielsweise hat das Einwohneramt registriert.

Noch ein bisschen mehr aus dem Statistikbüchlein zu Niendorf: Es gibt einen ordentlichen Frauenüberschuss, etwa jeder Zweite ist verheiratet, nur fünf Prozent empfangen Transferleistungen vom Staat. Zum Abschluss des Ausflugs in die Welt der Zahlen: Das Niendorfer Gehege ist 142 Hektar groß, und der Baum, der hier am häufigsten zu finden ist, ist mit einem Anteil von24 Prozent die Eiche.

Das Gehege ist Trumpf

Das Niendorfer Gehege. Gäbe es nur einen einzigen Grund, hierher zu ziehen, müsste man dieses anführen. Wandern Sie einmal die Kollau entlang, beispielsweise startend an einem kleinen Weg, der nahe dem Bondenwaldbad von der Friedrich-Ebert-Straße abgeht. Keine Sorge, verlaufen kann man sich nicht. Es geht immer die Kollau entlang.

Rechts ausgedehnte Flure, Wiesen und Pferdekoppeln. Links der Wald, dahinter versteckt die Wohnviertel. Sie kreuzen zwei Straßen und sind dann mittendrin im Gehege. Das Flüsschen entlang können Sie zu Fuß bis Eppendorf laufen.

Und wenn Sie etwas Glück haben, sehen sie Bussarde oder Rehe. Vielleicht begegnen Sie einem Fuchs, unter Umständen verliebten Pärchen, wahrscheinlich Müttern mit Nachwuchs auf dem Weg zu dem schönen Spielplatz am Ende der Straße Bondenwald, ganz sicher aber Joggern in bunten Leibchen.

In der nächsten Folge am 8.12.: Kreis Pinneberg