Mark Twain gab sich alle Mühe, verzweifelte aber an der Grammatik. Dabei hat das Lateinische noch zwei Fälle mehr

Vorgestern, am Totensonntag, als ich im Gottesdienst in der Kirche meiner Gemeinde Trost in der Trauer nach dem Tod meiner Frau suchte, hörte ich so viele Konjunktive in der Predigt wie sonst kaum in einer Ansprache - grammatisch korrekt, aber mit den zahlreichen "stürbe", "gewönne", "käme" und "würde" doch so, als weilte Martin Luther nach 500 Jahren noch unter uns. Ich dachte, es wäre hilfreicher, den Glauben an die Auferstehung an diesem Ort nicht als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit darzustellen.

Doch darum soll es jetzt nicht gehen. Wir schreiben kein Wort zum Sonntag, sondern eine Sprachkolumne. Und sprachlich fiel des Weiteren auf, wie korrekt die Pastorin den Namen Jesus Christus durchdeklinierte. Auf Latein, oder besser: auf Deutsch mit lateinischen Endungen. Im Genitiv heißt die Flexionsform Jesu Christi, im Dativ Jesu Christo, im Akkusativ Jesum Christum und im Vokativ Jesu Christe. Vokativ? Der Vokativ ist der Kasus (Fall), der zum Rufen und Anreden dient. Der Lateiner spricht, das bitte ich in diesem Zusammenhang zitieren zu dürfen, vom casus vocativus, vom "rufenden Fall".

Im Deutschen ist die Deklination, die Beugung von Hauptwörtern und ähnlichen Wortarten, schon schwierig genug, beschränkt sich aber wenigstens auf vier Fälle.

Der Lateiner fügt noch zwei weitere hinzu: den Vokativ (5. Fall) und den Ablativ (6. Fall, der einen Ausgangspunkt, eine Entfernung oder Trennung angibt). Ich erinnere mich an meine erste Lateinstunde in der Quarta (7. Klasse), als der altgediente Oberstudienrat uns den sprachlichen Reichtum der Römer pries - voller Eifer, wieder eine Schülergeneration mit dem Vokativ und ähnlichen Kostbarkeiten vertraut machen zu dürfen, aber auch voller Zweifel, ob wir Nachkriegskinder es überhaupt wert seien, in die humanistische Bildung eingeführt zu werden. Schließlich trug unsere Schule den verpflichtenden Namen des mit dem Nobelpreis geehrten Althistorikers Theodor Mommsen, der besser Latein konnte, als Cäsar es sprach. Nun begegnete mir der Vokativ in der protestantischen Liturgie wieder, in der überhaupt manche sprachliche Reste versteckt sind. Wer nicht gerade römische Geschichte studieren will, benötigt natürlich in der Schrift- und Umgangssprache kein großes Latinum. Es gibt Wichtigeres im Leben.

Deshalb will ich aus meinen Erinnerungen schnell zurück in die sprachliche Realität treten. Wenn das Wort Herr vorausgeht, tritt keine Flexion ein: das Leiden unseres Herrn Jesus Christus (nicht mehr: Jesu Christi) oder der Glaube an den Herrn Jesus Christus (nicht mehr: Jesum Christum). Das klingt doch weitaus zeitgemäßer.

Von Luther zu dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835-1910), der schreibt: "Wenn der Deutsche ein Eigenschaftswort in die Finger bekommt, dann dekliniert er es und hört nicht auf, es zu deklinieren, bis der letzte Rest von Verstand fortdekliniert ist." Im Englischen sei es einfacher. Man sage beispielsweise:

Mein guter Freund (my good friend), meines guten Freundes (of my good friend), meinem guten Freunde (to my good friend), meinen guten Freund (to my good friend) und im Plural: meine guten Freunde (my good friends), meiner guten Freunde (of good friends), meinen guten Freunden (to good friends) und meine guten Freunde (to good friends). Mark Twain, der eigentlich Samuel Langhorne Clemens hieß, lebte nicht nur am und auf dem Mississippi, sondern auf der Flucht vor seinen Gläubigern auch einige Jahre in Berlin und Wien. Er gab sich alle Mühe mit dem Deutschen, kam aber schließlich zu dem Fazit: "Die schreckliche deutsche Sprache".

Sprache ist nicht nur die Fähigkeit und die Art zu sprechen und zu formulieren, sondern Sprache ist auch das System von Zeichen und Lauten, das von den Angehörigen einer bestimmten sozialen Gemeinschaft in gesprochener und geschriebener Form zur Verständigung benutzt wird. 1,2 Milliarden Menschen geben Chinesisch als Muttersprache an, 100 Millionen Deutsch.

Ich weiß nicht, was leichter zu lernen ist. Mit dem Reichtum einer Sprache wächst auch ihre Schwierigkeit, aber nicht ihre Akzeptanz bei Ausländern und Migranten. Auf den Vokativ sollten wir unter diesen Umständen verzichten.