Eine Glosse von Florian Heil

Ich bin es ja gewohnt, dass Dinge einfach verschwinden. Vor allem Feuerzeuge und Kugelschreiber lösen sich bei mir auf solch unerklärliche Weise in Luft auf, dass ich schon auf Kleinzeug spezialisierte Diebesbanden vermute, die mich als dankbares Opfer ein Leben lang begleiten. Diesen Gaunern traue ich einiges zu, nicht jedoch den unbemerkten Diebstahl einer ganzen Straße. Dennoch hat sich "Am Anzuchtgarten" im Stadtteil Ohlsdorf offenbar auf unerklärliche Weise in Luft aufgelöst. Der Namensgeber der Straße, der Anzuchtgarten der alten Friedhofsgärtnerei, musste zwar vor einigen Jahren einem Neubaugebiet weichen, dennoch ist die Straße weiterhin in allen Karten und Büchern verzeichnet - faktisch jedoch nicht auffindbar.

Meine Nachfrage beim Bezirkesamt Nord wurde freundlich weitergeleitet zum Einwohnermeldeamt, von dort zur Liegenschaft und weiter zum Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer - wo entweder besetzt war oder niemand abhob. Das passte ins Bild, denn bei meinen Nachforschungen vor Ort versammelte sich schnell eine Gruppe von 15 hilfsbereiten Anwohnern, die Stein und Bein schworen, von dieser Straße noch nie gehört zu haben und mir wie unbeabsichtigt den Weg zustellten. Auch Google-Street-View beantwortet jeden Annäherungsversuch mit einem verschwommenen Bild. Wenn hier also nicht mit räumlichen Tarnkappen experimentiert wird, die Objekte in einem bestimmten Wellenbereich des Lichts unsichtbar werden lassen, gibt es nur eine logische Schlussfolgerung: Ganz Hamburg ist nur ein Konstrukt, eine "Truman Show" für Fortgeschrittene - und die Tür zur Realität, die alles auffliegen lässt, liegt irgendwo Am Anzuchtgarten.