Ein “würde“ macht noch keinen Konjunktiv. Die deutsche Grammatik ist weniger eine Kunst als eine Heimsuchung

Schleichen wir uns einmal auf einen Schulhof irgendwo zwischen Barmbek-Nord und Nobistor und beobachten zwei kleine Mädchen, das eine mit einem Botterlicker im Haar (Riesenschleife) und das andere mit geflochtenen Zöpfen. Klein Erna mit den Zöpfen sieht ungeduldig, wie Meta unermüdlich mit einem Springtau hüpft. Schließlich ruft sie: "Lass mir mal!" Die Lehrerin, die auch während der Pausenaufsicht immer Lehrerin bleibt, verbessert: "Lass mich mal!" "Ja", jubelt Klein Erna, "lass ihr mal!"

Was ist das? Hamburgisch? Nein, Grammatik. Die Wörter an sich stimmen ja, nur ihre Form und ihr Bezug untereinander nicht. Die Grammatik ist der Teil der Sprachwissenschaft, der sich mit den sprachlichen Formen und deren Funktion im Satz beschäftigt, also mit den Gesetzmäßigkeiten beim Bau einer Sprache.

Die deutsche Grammatik ist weniger eine Kunst als eine Heimsuchung. Ein Leser schrieb mir, er beschäftige eine ausländische Haushaltshilfe, die einen Deutsch-Kursus besuche. Er gebe ihr jeweils die aktuelle Folge meiner "Deutschstunde" mit. Schön für einen Autor, wenn seine Kolumne sogar zum Lehrmaterial wird. Ich befürchte allerdings, die Migrantin könnte sich im Labyrinth der Grammatik verlaufen.

Sehen wir nur einmal auf die Konjugation , auf die Beugung der Verben. Nehmen wir an, unsere Deutsch-Willige stößt im Abendblatt auf die Zeichenfolge zogst . Dann muss sie dieser Form folgende Eigenschaften zuordnen: 2. Person mit dem Numerus Singular (du; Plural: ihr), Modus Indikativ (Konjunktiv: zögest), Tempus Präteritum (Vergangenheit; Präsens: ziehst ) und Genus Verbi Aktiv (Passiv: wurdest gezogen).

Damit ist das Wort mit dem Infinitiv ziehen noch nicht ausrecherchiert, obwohl diese Aufstellung auch so Stoff genug für viele "Deutschstunden" böte. Heute wollen wir einen Blick auf den Konjunktiv werfen, auf die Möglichkeitsform. Das Pferd zieht den Wagen, ist Wirklichkeit, ist die Form des Indikativs, aber: Das Pferd zöge den Wagen, zeigt den Konjunktiv und sagt aus, dass die Möglichkeit des Ziehens gegeben wäre, wenn der Kutscher die Bremse gelöst hätte.

Gewönne doch der Konjunktiv, wünscht sich Wolf Schneider. Wer gewinnen will, muss allerdings erst einmal an den Start gehen. Doch der Konjunktiv hat es im deutschen Sprachraum immer schwer gehabt. Seine beiden Formen auseinanderzuhalten und korrekt anzuwenden war stets einer sprachbewussten Minderheit vorbehalten, schränkt Wolf Schneider ein.

In einem Fall ist der Konjunktiv jedoch nach wie vor unerlässlich: bei der indirekten Rede , bei der man die wörtliche Aussage des Sprechenden einem Dritten indirekt wiedergibt. Diese Aussageform ist in der Nachrichtensprache so wichtig wie das Ampellicht für einen Taxifahrer. Direkt: Fritz sagt: "Es regnet." Indirekt: Fritz sagte, es regne. Die indirekte Aussage steht im Konjunktiv I (Präsens), falls dessen Formen aber mit denen des Indikativs identisch sind, werden sie aus dem Präteritum gebildet: ich sehe - ich sah/ich sähe.

In der Praxis werden sie leider immer häufiger mit dem Joker würde verballhornt. Es herrscht geradezu eine Würde-Seuche in den Medien. Die ist nicht nur umgangssprachlich, die ergibt auch einen anderen Sinn. Der Regierungssprecher sagte, die Bundeskanzlerin würde noch heute Abend François Hollande treffen. Und warum tut sie's nicht? Diese Aussage schreit geradezu nach einem Konditionalsatz, der die Bedingung für die (Nicht-)Erfüllbarkeit der Ankündigung näher erläutert, etwa: wenn sie nicht krank wäre. Da wir Frau Merkel aber abends in der "Tagesschau" putzmunter in ihrem Kostüm nach Templiner Schnitt die Stufen des Élysée-Palastes hinaufeilen sehen, dürfen wir annehmen, dass es nicht würde, sondern werde hätte heißen müssen.

Schlägt man eine beliebige Zeitungsseite auf, stolpert man im Würde-Sumpf. Die SPD würde Geld für Steinbrück sammeln? Nein, sie sammle Geld für ihn. Niersbach würde Hoeneß nicht widersprechen, sondern er widerspreche ihm nicht, und das Hobby würde kein Geld einbringen, sondern es bringe kein Geld ein.

Merke: Ein würde macht noch keinen Konjunktiv, sondern sitzt meistens wie ein Kuckuck im falschen Nest.