Oder: Der eingezäunte Frieden in Ohlsdorf. Unsere Sprache unterliegt einem steten Wandel und verliert ab und zu einen Zopf

Zu einer längst vergangenen Zeit, als die Lehrerinnen im preußischen Umland noch hochgeschlossene graue Flanellkleider trugen und ihren Reetje (frauengerecht kurzer Rohrstock) sowohl zum Zeigen als auch zum Schlagen benutzten, hatte sich eines Morgens ein Buttje auf dem Weg zur Schule um einige Minuten verspätet und stand nun zitternd vor der strengen Matrone: "Ich entschuldige mich für mein Zuspätkommen!" Die Lehrerin herrschte den kleinen Kerl an: "Du kannst dich gar nicht entschuldigen! Du kannst mich höchstens um Entschuldigung bitten, und es ist dann meine Entscheidung, ob ich dir die Bitte gewähre!" Der Junge hat es vermieden, sich jemals wieder zu entschuldigen.

Der Freiherr von Knigge ist tot, und selbst Konrad Duden liegt seit mehr als 100 Jahren unter der Erde, sodass es an der Zeit ist, ab und zu einen Zopf der deutschen Sprache abzuschneiden. Wenn Angela Merkel sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt, dann bringt sie zum Ausdruck, dass ihr das Geschehene leidtut. Dabei muss die Bundeskanzlerin nicht abwarten, ob diese Entschuldigung auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte akzeptiert wird.

Die Sprache lebt und passt sich den Sprechenden an. Nehmen wir das Verb wissen. Ich weiß, was ich weiß und was ich gelernt, gelesen und gehört habe. Ursprünglich kommt das Wort aber vom althochdeutschen wizzan, und das bedeutet "gesehen haben". Die Bedeutungsentwicklung verlief also von gesehen haben zu wissen, denn was ich mit eigenen Augen gesehen habe, das weiß ich. Fazit: Früher sah man und wusste, heute gibt man vor zu wissen, was man aus der Wikipedia kopiert hat (wobei besonders Minister aufpassen sollten, keine Fußnote zu vergessen).

Wir sprechen von einer Volksetymologie, wenn ein Wort nicht mehr verstanden wird, weil es veraltet ist. Dann wird dieses Wort nach und nach in ein lautlich ähnliches Wort umgebildet, das zwar keinen anderen Sinn, aber jetzt scheinbar einen anderen Bezug hat.

Am Rosenmontag zum Beispiel werden Karamellen, aber keine Rosen geworfen, denn dieser Tag war ursprünglich der rasende, wilde, tolle Montag, an dem die Menschen den Verstand zu verlieren drohten. Das Wort hat sich gewandelt, das Benehmen der Rheinländer nicht.

Der Ohlsdorfer Friedhof heiße Friedhof, weil die Verstorbenen dort in Frieden ruhten, könnte man meinen. Dabei hat der Friedhof etymologisch nichts mit dem Frieden zu tun, sondern mit der Einfriedung, mit der Umzäunung. Der Friedhof war früher der eingefriedete (umzäunte) Hof an der Kirche (daher auch Kirchhof) .

Eine Schnapsdrossel ist eine Person, die sich in der Köm-Insel einen Kurzen nach dem anderen hinter die Binde gießt. Obwohl ihre Körperhaltung dabei an die einer Drossel erinnert, die an der Vogeltränke den Kopf hebt und den Schluck Wasser herunterrinnen lässt, liegt bei der Wortbildung keine Anleihe aus der Vogelwelt vor. Die Schnapsdrossel geht vielmehr auf die mittelhochdeutsche drozzel zurück, was Kehle oder Gurgel bedeutet. Daher auch das Verb erdrosseln für "die Kehle zudrücken".

Ein windschiefer Baum ist übrigens nicht vom Wind schief geweht, sondern musste sich winden und drehen, ist also verdreht gewachsen. Der Maulwurf hat ein spitzes Maul, das ihm aber nicht seinen Namen gab. Vielmehr war er lange vor Luther ein moltwerf, ein Erdwerfer. Als das Wort molt für Erde ausstarb, suchte die Umgangssprache nach einer anderen Erklärung und schaute dem Rasenwühler aufs Maul.

Niemand muss heute seine Wörter bis ins Althochdeutsche, Gotische oder bis zur indogermanischen Wurzel zurückverfolgen. Insofern hoffe ich, dass Sie beim Lesen keinen "Schrecken" bekommen haben. Oder einen Schreck? In diesem Fall haben wir zwischen zwei Formen des Substantivs zu unterscheiden: der Schreck, des Schrecks, die Schrecke und der Schrecken, des Schreckens, die Schrecken. Der Schreck ist eine kurze und plötzliche seelische Erschütterung durch etwas Unerwartetes, Unangenehmes und Angsteinflößendes, während der Schrecken einen länger andauernden Zustand seelischer Qual bezeichnet: Sie dachte immer wieder an den Schrecken des Zweiten Weltkriegs zurück.

Der Verfasser, 71, ist "Hamburgisch"-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags