Sprache ist, was gesprochen wird, nicht unbedingt das, was gesprochen werden soll. Selbst die Grammatik wandelt sich

Es stand auf der Seite 1, und zwar in der Rubrik "Menschlich gesehen", die seit der ersten Abendblatt-Ausgabe vom 14. Oktober 1948 ein Markenzeichen unserer Zeitung ist. Nicht nur bekannte und weniger bekannte Hamburger, sondern auch Menschen aus aller Herren Länder werden dort vorgestellt. Das stieß auf Protest - nicht die Menschen, aber die Grammatik.

Ein Leser belehrte uns, dass die Präposition aus mit Dativ stehen und es deshalb aus aller Herren Ländern heißen müsse. Was ist richtig? Beides ist möglich.

Bis 1934 befahl der Duden strikt die Flexionsendung -ern , danach knickte er ein. Heute empfiehlt er die endungslosen Länder , ohne die "veraltende" Dativ-Form damit für ungültig zu erklären. Ein solcher Sinneswandel wird von der Duden-Redaktion natürlich nicht aus Übermut während der Kaffeepause beschlossen, sondern beruht auf der genauen Beobachtung der Umgangssprache. Sprache ist, was gesprochen wird, nicht unbedingt das, was gesprochen werden soll. Im vergangenen Jahr war in den führenden deutschen Publikationen, nicht nur in denen von Axel Springer, mehrere Tausend Mal aus aller Herren Länder zu lesen, aber nur 124-mal aus aller Herren Ländern . Quantität schlägt Qualität? Mag sein. Wenn es für solche Änderungen der Sprachgewohnheiten noch keine Regel gibt, wird jedes Wörterbuch sich bemühen, schnellstens eine Regel nachzureichen. Die lautet im Duden Bd. 9 ("Richtiges und gutes Deutsch"): "Die Endungslosigkeit kommt auch bei pluralischen Substantiven auf -er vor, wenn sie von dem regierenden Wort (Präposition) durch ein Genitivattribut getrennt stehen. In der folgenden festen Wendung hat sich die endungslose Form bereits durchgesetzt: aus aller Herren Länder ." Übrigens schrieben bereits Hans Fallada oder Theodor Storm so ("sie war in der Leute Mäuler").

Als ich dem besagten Leser meine Fundsachen mitteilte, bezeichnete er den ganzen Vorgang als ein Stück aus dem Tollhaus. Ich grüble bis heute, ob er damit das Abendblatt oder den Duden gemeint hat. Wer sich auf den Duden beruft, gerät leicht in einen ähnlichen Verdacht der Stillosigkeit, als habe er getrüffelte Gänseleberpastete bei Aldi gekauft. Wem die Botschaft nicht passt, der schlägt den Boten. Im Altertum wurde der Überbringer einer schlechten Nachricht einen Kopf kürzer gemacht, heute wird der Duden in die blaue Tonne gewünscht.

Der Duden, und damit ist nicht nur der Rechtschreibduden, sondern die gesamte Duden-Bibliothek gemeint, hat den Vorteil, in jeder Redaktion irgendwo in Deutschland vorhanden zu sein. Um eine Einheitlichkeit der Schreibweisen zu erreichen, kann jeder Redakteur nachgucken, und wir brauchen nicht jedes Mal eine Hauptversammlung einzuberufen, um über eine Dativ-Endung abzustimmen.

Natürlich tun wir gut daran, dem Duden nur zögernd zu folgen. Das Alarmzeichen ist die Abkürzung "ugs." für "umgangssprachlich". Erst reden Hein und Fiete so, dann erscheint die Form als "ugs." im Duden, der ein existenzielles Interesse daran hat, keine Entwicklung zu verpassen, und schließlich ist sie amtlich.

Peter Gudelius aus Quickborn, der selbst einen Sprach-Blog im Internet betreibt, ist empört, dass im Duden jetzt auch gewunken wird, zwar nicht hochsprachlich, aber "ugs.". Schließlich heiße es nicht "winken, wank, gewunken", sondern winken, winkte, gewinkt . Weil kürzlich jemand aus der U 1 gewunken hat, ist die klare Ansage vonnöten: In Hamburg wird nach wie vor gewinkt. Wem das nicht passt, der lasse den Arm unten!

Mit solchen Beispielen ließen sich viele "Deutschstunden" füllen. Für heute nur noch der Blick auf scheinbar/anscheinend, deren Unterschied zu verwässern droht. Wenn die Kollegin scheinbar krank ist , dann macht sie blau, gibt sich nur den Schein des Krankseins und sitzt vor dem Alsterpavillon mit einem Cappuccino in der Sonne. Wenn sie aber anscheinend krank ist, dann deutet alles darauf hin, dass es ihr schlecht geht. Wahrscheinlich wird gleich die Krankmeldung eintreffen. So kann ein kleines Wörtchen dafür entscheidend sein, ob die Geschäftsleitung die fristlose Kündigung aussprechen oder den Blumenstrauß ans Krankenbett schicken wird.