Waldemar Paulsen war in den 70er-Jahren Zivilfahnder auf St. Pauli. Jetzt schrieb der pensionierte Polizist ein Buch über den Kiez.

St. Pauli. Die Damen trugen unter dem üppigen Dekolleté Röcke so kurz wie ein Notverband, die dazugehörigen Herren stiegen in Pelz und langen Ledermänteln aus ihren Rolls-Royce-Limousinen und Chevrolet Corvettes. Nie war der Kiez schriller und verruchter als in den 70er- und 80er-Jahren. Es war die Zeit der Zuhälterbanden und Großbordelle, eine Zeit, in der Lust und Laster noch das Bild der Straße bestimmten. Selten war der Kiez für Kiezianer und solche, die es werden wollten, gefährlicher als damals. Der Hamburger Zivilfahnder Waldemar Paulsen hat diese Zeit so intensiv miterlebt wie wohl kein zweiter Polizist. Der Kommissar war zehn Jahre lang der Verbindungsmann zwischen Schmiere und Milieu auf der Davidwache, der Mann, der den Luden auf die Finger schaute.

Inzwischen ist er pensioniert. Nun sind seine Erinnerungen als Buch erschienen. Titel: "Meine Davidwache". Darin beschreibt er die täglichen Machtkämpfe, skurrilen Begegnungen und die allgegenwärtige Gefahr, die das Leben und Treiben auf der Reeperbahn und in ihren Seitenstraßen nicht nur für ihn bedeutete. Denn auch Paulsen überlebte diese Zeit nur knapp.

Es war der 1. Oktober 1972, als Waldemar Paulsen von der Bereitschaftspolizei an die Davidwache versetzt wurde. Der Junge vom Dorf - Paulsen hatte seine Kindheit und Jugend in Friedrichskoog (Dithmarschen) verbracht - war dort, wo er immer hinwollte.

Für ihn war St. Pauli vor allem eines: "Ein starkes Stück Weltstadt, das niemals schlief." Doch, so schreibt Paulsen in seinem Buch: "St. Pauli war schon früh eine Brutstätte der Kriminalität. Die Politik leugnete das lange stoisch. 'Von organisierten Banden kann auf St. Pauli keine Rede sein', äußerte 1963 ein Hamburger Innensenator wider besseres Wissen. Er hieß Helmut Schmidt. Dieses Ausblenden der Realität war Teil der politischen Kultur Hamburgs und blieb es für lange Zeit. Hamburgs Polizei kostete das im Kampf gegen das Verbrechen zwei Jahrzehnte, und das sollte sich rächen." Denn so bunt der Kiez damals war, so gefährlich war er auch.

Waldemar Paulsen erinnert sich in seinem Buch an schillernde Figuren auf dem Kiez. Der Polizist über den damaligen Paten Wilfried "Frieda" Schulz:

"Während die meisten Rotlichtgrößen auf Muskeln und Schlagkraft setzten, überwog bei Frieda Schulz kühler Intellekt und Durchsetzungswillen. Mit eiserner Hand hatte er schon 1959 italienische Zuhälter vom Kiez gefegt - der Beginn seiner fast 20-jährigen Herrschaft. 'Schweine-Hans' und 'Schläger-Fred' - im Rotlicht waren Spitznamen, die auf auffällige Charakteristika reduziert waren, sehr beliebt - waren die nächsten beiden St.-Pauli-Größen, die Frieda auf seinem steilen Weg an die Spitze der Ludenszene zur Strecke brachte. Sein Markenzeichen waren groß karierte Sakkos und - bei guter Laune - eine Havanna zwischen den Zähnen. Zu Friedas Sternstunde wurde die Vertreibung der österreichischen Zuhälter, die in den späten 60er-Jahren St. Pauli beherrschten und gemeinhin als Plage wahrgenommen wurden. Friedas Mann fürs Grobe war 'Dakota-Uwe'.

Im Hotel Austria an der Talstraße überfielen er und seine Kollegen den Konkurrenten, stachen ihm ein Messer in den Hintern und drehten es langsam um. Dann führten sie den verletzten 'Wiener Bär' seinen Landsleuten vor und befahlen: 'Und jetzt verlasst ihr die Stadt!' Als ich nach St. Pauli kam, waren nur noch zwei Österreicher im Milieu zu finden: Es waren der später wegen mehrfachen Mordes verurteilte 'Wiener Peter' alias Josef Nusser und ein übrig gebliebener, unscheinbarer Mann, der in die Jahre gekommene 'Mützen-Helmut'. Seit der Vertreibung der Österreicher war Schulz die Nummer eins auf dem Kiez - das Alphatier."

Paulsen über seine Arbeit:

"Die wichtigste Eigenschaft eines Zivilfahnders war die Fähigkeit, auf die unterschiedlichsten Menschen einzugehen, sich gegebenenfalls wie ein Chamäleon zu wandeln. Wir mussten im Umgang mit den St. Paulianern lernen, wie wir ihnen gegenübertraten, um ihre Herzen zu gewinnen, denn wer hier als unnahbarer Apparatschik auftrat, erreichte gar nichts. In der Herbertstraße, den zwei Großbordellen Eros-Center und Palais d'Amour (heute Laufhaus), den edlen Saunaklubs, den Straßenbordellen, Stripteaselokalen und in den Bordellen am Fischmarkt sprach ich die Leute stets respektvoll mit 'Sie' an. Anders im 'Bermudadreieck' Talstraße, Simon-von-Utrecht-Straße, Hamburger Berg: Dort, wo sich Stadtstreicher, Gestrauchelte und Spaßtrinker vergnügten, erreichte ich die Menschen am besten mit einem freundlichen 'Du'."

Einen der radikalsten Wandel erlebte der Kiez, so erinnert sich Paulsen, Ende der 70er-Jahre, als die Macht des gealterten und müde gewordenen Frieda Schulz langsam bröckelte. Die Prostitution in Appartements setzte sich durch. Kokain, später auch Heroin, krempelten den Kiez um:

"Harte Verteilungskämpfe begannen, die Karten wurden neu gemischt", so Paulsen. "Dominierten zuvor starke Persönlichkeiten die Szene, so führte die Drogenwelle dazu, dass viele Zuhälter ihre Bodenhaftung verloren, ihren Verantwortungen nicht mehr nachkamen, kurzum: abstürzten."

Über Ringo Klemm und das Chikago:

"1977 übernahm Ringo die legendäre Bar Chikago von Janny Gakomiros. Das Chikago direkt am Hans-Albers-Platz war vorübergehend so etwas wie das Epizentrum des Rotlichtmilieus. Klemm, Jahrgang 1946, war nur 1,67 Meter groß, geradezu schmächtig. Der gebürtige Sachse strandete Anfang 1970 auf dem Kiez. Seine Bewährungsprobe kam, als er zusammen mit ,Stotter-Harry', ,Dakota-Uwe' und ,Tabak-Ilja' am helllichten Tag den Gangster Sergio di Cola in der Friedrichstraße erschlagen haben sollte. Nachgewiesen wurde ihm das allerdings nie. Mit diesem Gesellenstück und dem Segen des Paten kämpfte sich Klemm in der Ludenhierarchie immer weiter nach oben. In seinem Lokal, offiziell ein Eiscafé, traf sich nicht nur der harte Kern der Ludenszene, hinzu kamen auch immer mehr Prominente aus Film und Fernsehen. Der Regisseur Jürgen Roland war dabei, der Maler und Bildhauer Jörg Immendorff, Udo Lindenberg sowie der Sänger Achim Reichel. Im Obergeschoss gab es 15 Zimmer, in denen Mädchen anschafften. In einem zusätzlichen größeren Raum saßen donnerstags Hamburgs Luden, später Zuhälter aus dem gesamten Bundesgebiet, um zu zocken. Die Zocker verspielten dort mitunter an einem Abend das Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners."

Anfang der 80er-Jahre begann auch die Zeit der großen Rotlichtkartelle. Vier junge Männer, so Paulsen, waren dabei bereits in den 70er-Jahren ein Zweckbündnis eingegangen, das sich GMBH nannte und das Anfang der 80er-Jahre zum ersten großen Zuhälterkartell aufstieg:

"Die Abkürzung setzte sich aus den Anfangsbuchstaben der Hauptakteure zusammen: Gerd Glissmann, Michael Luchting, genannt 'der schöne Mischa', Walter 'Beatle' Vogeler und Harry Voerthmann, genannt 'der Hundertjährige'. Ihr Hauptquartier war ein Klublokal in der Silbersackstraße 3. Die GMBH wurde straff geführt und war in einem irren Tempo zu Macht und Reichtum gekommen. In ihrer besten Zeit, so schätzte man, verdiente jeder der vier 200 000 Mark im Monat. Das Geld quoll ihnen nur so aus den Taschen. Zeitweise hatten sie die Kontrolle über 120 Zuhälter und 500 Frauen. Diese Truppe war mit nichts vergleichbar, was wir bislang kannten. Walter 'Beatle' Vogeler war die schillerndste Gestalt der Gruppe. Er war ein Frisurenfanatiker. Ehe er aus seinem zweisitzigen Cabrio Mercedes-Benz SSK-Excalibur stieg, einem Direktimport aus den USA, brauchte er ewig, um sein Haar zu richten. Der 'schöne Mischa' war knapp über 1,80 Meter groß, schlank, apart, ein absoluter Frauentyp. Der schwäbische Bankkaufmann mit Abitur setzte im Milieu neue organisatorische Maßstäbe, er war ein Ordnungsfanatiker. Mischa fuhr einen perlmuttfarbenen Rolls-Royce Silver Shadow. Harry Voerthmann wirkte wie ein in die Jahre gekommener Altrocker. Seinen Namen hatte er bekommen, weil er gern über seine unzähligen Knastjahre sprach, sodass der Zuhörer am Ende den Eindruck gewann, der Typ müsste mindestens 100 Jahre alt sein. Glissmann, ehemaliger deutscher Karatemeister, war neben den Finanzen auch fürs Grobe zuständig - musste aber nur selten ernsthaft zulangen.

Parallel zur GMBH entwickelte sich auch der ehemalige Boxprofi Stefan Hentschel zur Kiezgröße, der gern die Legende vom 'göttlichen Zuhälter' strickte: 'Ich habe mit vier Frauen in der Tagesschicht angefangen, nach zwei Monaten waren es 27 Damen.' Wie er die Frauen köderte, für ihn zu arbeiten? 'Du machst den Zampano, legst eine Werbewoche auf Gran Canaria ein, zeigst der Dame die große Welt', sagte er einmal. Hentschel wurde zweimal angeschossen. Weit später erhängte er sich im Boxkeller der Ritze. Auch die GMBH-Mitglieder starben entweder verarmt oder richteten sich selbst."

In den 80ern wächst die Konkurrenz. Eine Gang um den "schönen Klaus" Barkowsky schickte sich in den 80ern an, der GMBH das Wasser abzugraben. Mit ihrem schlagkräftigen Mann fürs Grobe, Thomas Born, gewann die von der Konkurrenz wegen des jugendlichen Alters der sieben Mitglieder "Nutella-Bande" getaufte Gruppe, schnell an Einfluss:

"Man gab sich jung und wild. Sie fuhren amerikanische Schlitten wie Corvette oder italienische Sportwagen - in Abgrenzung zum klassischen Rolls-Royce-Stil der GMBH. Weil in den folgenden Jahren der Stress im Milieu eher mehr denn weniger wurde, stieg Born schnell zum wichtigsten Mann im Kartell auf - hinter dem 'schönen Klaus'.

Im Umgang mit den Mitbewerbern setzten sie durch Brutalität und Skrupellosigkeit neue Maßstäbe. Bei 'Nutella' stieg Anfang der 80er-Jahre die deutsche Sektion der Hells Angels mit ein. Ein Streit zwischen zwei Prostituierten im Eros-Center war es schließlich, der den Krieg eröffnete. Die Damen stritten um einen Standplatz im Kontakthof."

Zwei Mitglieder der Nutella-Bande wurden im Oktober 1982 im Eros-Center erschossen, als sie ihrerseits mit der GMBH abrechnen wollen. Thomas Born ist der einzige ihres Kommandos, der überlebt. Die Zustände auf St. Pauli waren aus dem Ruder gelaufen.

"Der Drogenkonsum nahm weiter zu, osteuropäische Banden nisteten sich ein, der stets stille 'Wiener-Peter' startete eine Mordserie, in der er fünf Konkurrenten beseitigen ließ. Sein 'Killer vom Dienst': Werner 'Mucki' Pinzner, der 1986 im Polizeipräsidium den Staatsanwalt Wolfgang Bistry, seine Frau, die für ihn die Waffe eingeschmuggelt hatte, und sich selbst erschoss."

Waldemar Paulsen verließ den Kiez schon vorher und wechselte Anfang der 80er-Jahre an eine andere Dienststelle, nachdem er von einem gesuchten Straftäter in der Kneipe D-Zug 2 am Hamburger Berg fast erschossen worden wäre. Die Kugeln, die ihm galten, töteten einen Zecher und verletzten eine Alt-Prostituierte schwer. Eine Tragödie, mit der Paulsen bis heute nicht abgeschlossen hat, wie er sagt. Eine Dienststelle für Organisierte Kriminalität wurde in Hamburg im Jahr 1982 gegründet. Es war die erste Dienststelle dieser Art in Deutschland.

Das Buch "Meine Davidwache" von Waldemar Paulsen (ISBN 9783499628399) ist bei Rowohlt erschienen. Es kostet 9,99 Euro