Wie viel urtümlicher Kiez steckt vor dem Reeperbahn-Festival noch in St. Pauli? Das Quartier wird zur Partyzone - Alteingesessene trauern.

Hamburg. Also, René Durand habe ja gar nicht begriffen, dass er sich in Ochsenzoll befand, wohin seine Tochter Yvonne ihn wegen fortschreitender Demenz entsorgt hatte, erzählt St.-Pauli-Biograf Günter Zint, 71, der den einstigen Salambo-Impresario daraufhin kurz entschlossen zu sich nach Hause aufs Land in Estorf holte. Auch um einen Film über das außergewöhnliche Leben des heute 85-Jährigen zu drehen, ein weiteres Zeitzeugnis zu schaffen und damit so ganz nebenbei die vorerst endgültige Verwandlung eines eben noch pulsierenden Rotlichtviertels zum reinen Mythos zu dokumentieren.

"Diese Entwicklung ist nun mal so und wohl auch nicht mehr aufzuhalten", sagt Zint. So wie Durands Alzheimer-Erkrankung. Doch wenn es sich um ferne Erinnerungen handele, habe René immer wieder einige lichte Momente zu bieten: "Wir drehen jedenfalls an einem Freitagabend vor dem Dollhouse, das vorher ja 30 Jahre lang sein Salambo gewesen war, und René blickt die überfüllte Große Freiheit runter und sagt plötzlich: 'Mir haben sie damals die Portiers verboten und den Laden wegen Förderung der Prostitution dichtgemacht.' 'Bist du heute darüber nicht sauer?', frage ich, und René meint: 'Nein, mir geht es doch gut, aber die Stadt hat sich damit geschadet!'"

Schon häufig ist sie totgeschrieben worden, die "sündigste Meile der Welt", die mit 950 Meter Länge allenfalls nur der Hälfte einer nautischen Meile entspricht. Doch wenn ein Taxifahrer in Brooklyn oder ein Hühnerbrater in Taipeh den reisenden Hamburger fragt, woher er komme, bekommt der auf seine Antwort zunächst ein wissendes Nicken und dann vier Wörter zu hören: "Hamburg? O ja/yes/si/oui/da, Reeperbahn!" Aber wie lange noch?

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1978 wagte Udo Lindenberg einen Abgesang (den er später revidierte): Reeperbahn, wenn ich dich heute so anseh / Kulisse für 'n Film, der nicht mehr läuft / Ich sag dir, das tut weh ...

Dieser betagte Song über die "Jungs aus Buxtehude und aus Lüneburg", die mit Alk und Pillen ein Wochenende lang durchmachen; über teure Abende, die keine Abenteuer beinhalten, und über begabte Musiker, die sich als DJs durchschlagen müssen, ist brandaktuell, vor allem freitags und sonnabends, wenn ein Drittel des Kiezes sich in einen einzigen Ballermann verwandelt: stiernackige Türsteher vor Trinkhallen, rauflustige Jungbullen aus den Vorstädten, die sich dank Penny und Lidl vor dem Kiezbummel vor Ort für eine Handvoll Euro druckbetanken können. Dutzende Gruppen kreischender Mädels, die Junggesellinnenabschiede feiern. Bustouristen in ockerfarbener Freizeitkleidung, die sich von "St.-Pauli-Originalen" auf eine Expedition durchs Igittigittmilieu begeben. Durch das, was davon noch übrig ist.

"Und dann - hömma, hömma, hömma! - hat die eine Madame das Fenster aufgerissen und die Erika angebrüllt: Machst du 'n Marsch in die Vergangenheit, oder was?", feixt einer, Typ Modelleisenbahner, so um die 60, mit eisgrauem Kinnbart, die Stimme oberrheinisch gefärbt. Während er zur Belustigung der Grefrather Reisegruppe rumkrakeelt, umarmt er burschikos die Frau, die wohl die seine ist und Erika heißt; die auch um die 60 ist, deren Wangen glühen und die sich ab jetzt als Heldin fühlen dürfte: weil sie es trotz strengsten Verbots gewagt hatte, in die Herbertstraße hineinzustolpern.

Das einstige Kerngeschäft wird eh nur noch durch depperte Touristen und Geschäftsleute mühsam aufrechterhalten. "Die Prostitution auf St. Pauli besitzt inzwischen folkloristischen Charakter", sagt Günter Zint spitz, "auf dem Kiez wird im Grunde nur noch gekobert und geneppt."

Ulrich Wagner, der seit vier Jahren als Leiter des Polizeikommissariats 15 amtiert - das vielleicht berühmteste Polizeirevier der Welt an der Davidstraße - nennt es nicht Nepp, sondern Betrug. "Dieses Delikt nimmt leider zu, und die Dreistigkeit der Täter ist besorgniserregend. Einigen Klubbesitzern und Bordelliers kommt es wohl nur noch darauf an, irgendwie an die Karten und PIN-Nummern der Kunden zu gelangen, anstatt gepflegte Getränke zu verkaufen." Wagner schätzt, dass noch rund 350 Frauen in den drei Laufhäusern, in der Herbertstraße sowie auf den paar Metern Straßenstrich an der Davidstraße und dem Hans-Albers-Platz anschaffen gehen.

Die zweite große Baustelle sei das Gewaltpotenzial der Freitag- und Sonnabendgäste. 50 bis 60 Beamte seien an den Großkampftagen vor allem damit beschäftigt, die häufig vollkommen grundlosen Schlägereien möglichst zu verhindern oder zu schlichten. Diese Prügeleien seien beinahe ein Ritual, fester Bestandteil des Wochenendvergnügens, doch immerhin sei die Anzeigebereitschaft größer geworden. "Aber wenn zwei unserer Leute auf der Straße die Personalien der Streithähne aufnehmen, müssen mindestens zwei weitere Beamte die Kollegen schützen. Häufig heißt es: 'Wieso mischt ihr euch ein, ist doch bloß 'ne Hauerei!'"

Allerdings, so Wagner, dürfe man nicht verkennen, dass es auf St. Pauli nicht gefährlicher sei als in anderen Stadtteilen auch: "Dieser Eindruck entsteht nur, weil sich alles auf 0,7 Quadratkilometern abspielt." Die übrigen 1,6 Quadratkilometer des Stadtteils seien ja überwiegend ruhig.

Viele Hamburger meiden die Meile jedoch inzwischen wie die Pest. Vor allem, wenn die Partyszene vibriert. "Die Hauptzielgruppe sind heute nun mal die 18- bis 25-Jährigen. Mit denen lässt sich in den Diskotheken, Klubs und Bars inzwischen mehr Geld verdienen als mit der klassischen Milieugastronomie. So gesehen passt sich die Reeperbahn an die Bedürfnisse an", analysiert der Polizeioberrat, "und das tut sie ja bereits seit dem 17. Jahrhundert".

Die wenigen noch aktiven Alteingesessenen lächeln jedoch über den derzeitigen Zustand "ihrer Meile" müde. Und ein bisschen traurig. Sie schwelgen in ihren Erinnerungen an die Beatles im Star-Club, an die einschlägigen Etablissements, in denen die Getränkepreise in hellroter Schrift auf hellrotem Papier gedruckt waren; damals, als noch so was wie Ganovenehre zählte und in den Schaufenstern Damen ausgestellt wurden und keine St.-Pauli-T-Shirts und -Kaffeepötte. Selbst als Mitte der 1980er ein Auftragskiller namens Werner Pinzner eine ziemlich beispiellose Mordserie im Milieu hingelegt hatte, hätten die Schauerschlagzeilen für mehr Gäste gesorgt. "Der heutige Lude tritt bloß noch in die Pedalen", sagt Pico, der berühmteste Kellner im Viertel, "und wenn er großes Glück hat, dann besitzt er 'n Alu-Rad von Kettler." Arbeiteten doch immer mehr Prostituierte als Ich-AGs mit Sozialversicherungsnummer und haben ihre Poussierer zu Hartz-IV-Empfängern degradiert.

Die knorrigen Ureinwohner stehen der derzeitigen Entwicklung - weg vom Sexgeschäft, hin zur Eventkultur - zumeist ablehnend gegenüber. Sie sind genervt von den zahlreichen Großveranstaltungen wie den Cyclassics, den Marathons und Triathlons oder den Harley Days. Sie fühlen sich gestört von den damit verbundenen Straßensperrungen und dem Lärm. Sie befürchten die "Deichmannisierung" und "Teheranisierung" ihrer Meile und meinen damit den zunehmend reinigenden Einfluss von Filialen und Stararchitekten aufs schmuddelige Antlitz der Reeperbahn.

Hans-Henning Schneidereit, 87, ist einer dieser letzten Mohikaner. Der Betreiber von Deutschlands einzigem Erotik-Cabaret, in dem die Drohne Willy sein Bienchen Maja bis zu fünfmal pro Abend vorm staunenden Publikum live bestäuben muss, fühlt sich bereits wie ein Vertriebener. Aber noch residiert er mit seinem Safari auf der Großen Freiheit, seit 1963 schon. Er schimpft auf ausländische Investoren und Immobilenbesitzer, die die Mieten exorbitant erhöhen würden; und er zieht gegen die Gema zu Felde, die von ihm zukünftig 15 000 Euro pro Jahr für die Musikrechte kassieren will. Gleichwohl sei er neulich der inszenierten Beerdigung der Musikszene auf dem Spielbudenplatz ferngeblieben. Zum einen, weil er den Trauerzug albern fand, zum anderen, weil seine Bandscheibe zwickte.

Nicht nur Schneidereit wünscht sich einen St.-Pauli-König wie Willi Bartels (gestorben am 5. November 2007) zurück: "Bei Problemen hat Willi Bartels mit den Leuten geredet, und dann war gut." Die Frage, ob eine unbestrittene Kiez-Autorität wie der Immobilen-Tycoon Bartels auch das Gema-Problem in den Griff bekommen hätte, bleibt unbeantwortet, aber, sagt Schneidereit, "St. Pauli ist eine Marke, die weltweit bekannt ist wie Coca-Cola. Leider haben das unsere offenbar verklemmten Provinzpolitiker im Senat über Jahrzehnte nicht kapiert. Solch eine Marke lässt man doch nicht einfach so verkommen!" Über das anstehende Reeperbahn-Festival zuckt er die Schultern.

Dabei ist das dreitägige Festival vom 20. bis 22. September viel mehr als bloß Party, Musik und Kunst. Es ist die Rückbesinnung auf die zweite tragende Säule der Meile - Rock 'n' Roll. Und es ist gleichzeitig eine Mahnung, dass auch die Musikklubszene durch die neuen glänzenden Fassaden des Stadtteils gefährdet ist. Kaschemmen, Kriminalität und Kunst in all ihren Facetten haben sich schon immer gegenseitig angezogen, und das sollten sie vielleicht auch: wie etwa im Londoner East End, im New Yorker Stadtteil Soho oder auch im Amsterdamer Rotlichtviertel unterm Glockenturm der gotischen Oudekerk. Aber, sagen die besorgten St. Paulianer, wenn das Gewerbe jetzt verdrängt würde, dann wäre das raue Flair zerstoben - was das herausragende Alleinstellungsmerkmal der Marke St. Pauli ausmachen würde. Denn wegen zweier Tanzender Türme, kubisch anmutender Windkanalarchitektur und Designerhotels komme doch niemand mehr auf den Kiez.

Der relativ neue und junge Bezirksamt-Mitte-Chef Andy Grote, der seit zwölf Jahren auf dem Kiez lebt, stellt die Gegenfrage: "Will man denn die angeblich so glorreichen Zeiten des späten 20. Jahrhunderts wirklich wieder zurück?" Grote meint, dass der Kiez von 1980 in Wahrheit total kaputt war. Dass der Mythos St. Pauli jedoch viel robuster sei, als viele zurzeit annehmen. "Man kann ja wohl schlecht von der Stadt verlangen, ausgerechnet das horizontale Gewerbe zu fördern, bloß weil dieser wirtschaftliche Pfeiler des Viertels jetzt ein bisschen wackelt", sagt er. Und auch die Furcht vor einer Filialisierung der Reeperbahn sei trotz der beiden Discounter am Nobistor unbegründet: "Auf der ganzen Meile gibt es zum Beispiel nur einen einzigen Backshop, und eine der beiden Apotheken hat jetzt auch dichtgemacht."

Aber der Bezirksamt-Mitte-Chef weiß auch ganz genau, dass die Gefahren, die mit der Gentrifizierung eines Quartiers wie St. Pauli einhergehen, nicht wegzuleugnen sind. "Deshalb fragen wir auch bei jedem neuen Bebauungsplan nach: Was wollt ihr da machen?" Seiner Meinung nach wüssten die Investoren und Immobilienbesitzer sehr genau, dass Läden wie das Molotow, der Silbersack oder der Goldene Handschuh so etwas wie Bestandsschutz genießen müssen. Und Grote ist auch überzeugt davon, dass die Geldgeber dementsprechend handelten. "Die Hamburger können sich zum Beispiel auf den neuen Mojo-Club freuen, aber auch dass es gelungen ist, eine vernünftige Nutzung für das Möbel-Brandes-Gebäude hinzukriegen." Natürlich hofft er, dass auch das Safari auf der Großen Freiheit "noch auf Jahrzehnte hin weiter bestehen bleibt". Denn nur mit solch anrüchigen Farbtupfern lasse sich die einzigartige, abwechslungsreiche Vergnügungsdichte auf engstem Raum aufrechterhalten. Da lacht Schneidereit: "Mein Safari? Jahrzehnte? Abgesehen von meinem Alter sehe ich da unter den gegeben Umständen schwarz."

"St. Pauli ist abseits der Reeperbahn ein liebenswerter Stadtteil mit Herz, in dem es keine Konventionen gibt und es vollkommen egal ist, welche Hautfarbe jemand hat", sagt Ulrich Wagner. Günter Zint pflichtet ihm bei. Auch für ihn sei das moderne St. Pauli inzwischen am Hafenrand oder um die Paul-Rosen-Straße herum zu finden, "wo viele neue interessante Kneipen, Klubs, Restaurants und Bars entstanden sind". Die breite Mitte meidet er schon lange, schaut auch in der Großen Freiheit allerhöchstens mal bei einem Konzert in der "36" vorbei. Doch mit seinen Fotos, Filmen, Büchern und zahlreichen Projekten zeigt Zint verbissen Flagge fürs Quartier. Für den Mythos des Rotlichtbezirks, dessen schummrige Lichter derzeit noch mehr heruntergedimmt werden. Vielleicht auch nur, damit jetzt gleißende Halogenscheinwerfer aufflammen können und Udo Lindenberg singt: "Reeperbahn - alte Braut / so 'n Comeback hätt ich dir gar nicht zugetraut / Reeperbahn - egal was war / du alte Gangsterbraut, jetzt biste wieder da.