Die Veddel ist das unbeliebte Stiefkind der Stadt. Rau, schwierig, trotzig. Und dennoch: Nirgendwo ist Hamburg so international wie hier.

Hamburgs Schönheit liegt nur teilweise in den strahlend weißen Villen von Harvestehude, im glänzenden Licht der Alster. Hamburgs Schönheit liegt in der Nähe der absoluten Gegensätze. Nur 15 Autominuten entfernt vom altehrwürdigen Hotel Atlantic, von den noblen Innenstadtquartieren und poppig-bunten Einkaufsmeilen beginnt eine andere Welt. Hier erstreckt sich die Veddel im wenig glamourösen Hamburger Süden über drei Inseln der Elbe. Ein Rest Hafenromantik weht dem Besucher um die Ohren. Die wildesten Geräusche tönen von den Ufern herüber: Stahlspinnen heulen, Kräne kreischen über die Schienen, Lastwagen rangieren, die S-Bahn rattert. Von weit her ertönt das zänkische Geschrei der Möwen.

Mehr Nationen sind nirgendwo

Lange Zeit hat der Stadtteil völlig unbeobachtet und abgeschottet mitten im Hafen gelegen. Ein wenig vergessen wirkt er heute immer noch. Die Veddel ist das ungeliebte Stiefkind der Stadt: rau, schwierig, trotzig. Der denkbar größte Gegensatz zu Perlenkette und Barbourjacke. Ein Dorf mitten in der Großstadt, das nach eigenen Regeln funktioniert. Doch wer sich auf den leicht schrottigen Industrieanlagen-Charme des Viertels einlässt, zu dem auch der Müggenburger Zollhafen und die Binneninsel Peute zählen, entdeckt seine lebendige Vielfalt und bekommt eine Ahnung, wie das Heimatgefühl zustande kommt, das viele der 5000 Bewohner empfinden. Viele "alte" Veddeler leben hier, die sich noch an die frühen Jahre der Großsiedlung erinnern. Zu Hause fühlen sich auch die vielen Migranten - teilweise schon seit Jahrzehnten: Schwarzafrikaner, türkische, albanische, mazedonische Familien, Portugiesen. Nirgendwo ist Hamburg so international wie auf der Veddel.

Das Zusammenleben ist geprägt von stark ausdifferenzierten Haltungen. Geschmack, Lebensentwürfe, Herkunft und Meinungen, soziale und persönliche Belange gehen weit auseinander. Die Veddel auf einen Begriff zu bringen, will man nicht das viel bemühte Klischee des sozialen Brennpunktes bemühen, ist deshalb beinahe unmöglich. Francine Lammar von "Veddel aktiv", einem Verein, der seit Jahrzehnten Stadtteilarbeit leistet, will jedenfalls nicht schon wieder über verschleierte Frauen sprechen, die den Blick nicht vom Bürgersteig, nicht über den Tellerrand heben. Über Armut und Hartz IV, das 28 Prozent der hier lebenden Bevölkerung beziehen - womit die Veddel hamburgweit an der Spitze liegt. Lieber redet sie von der pulsierenden Spannung des Viertels, von seinen Gegensätzlichkeiten und den Menschen, die sich dafür einsetzen, dass dies ein lebenswerter Raum für seine Bewohner bleibt. "Es gibt viele Familien hier, die perfekt integriert sind, studiert haben und sehr an Bildung interessiert sind", sagt Lammar. Doch weil großzügige Wohnungen knapp sind, es lediglich Mietbestand gibt, kaufen junge Familien, die es sich leisten können, Eigentum im benachbarten Wilhelmsburg oder Harburg.

Inselgefühl, das Fernweh stillt

Vor ein paar Jahren hat der Trend begonnen, dass Studenten und Kreative sich zunehmend der Veddel zuwandten - auch weil die Stadt sich mit einem Förderprogramm finanziell beteiligte. Die Hoffnung, dass hier zukunftsträchtige Künstler-Enklaven entstehen, Galeristen sich an die Fersen von Jungmalern heften, gefolgt von Boutiquen, Bars und schließlich zahlungskräftiger Klientel, hat sich allerdings nicht erfüllt. Aber doch die Zuwendung einiger junger Gegen-den-Strom-Schwimmer. "Ich habe mich gleich bei der Wohnungsbesichtigung in die Veddel verliebt", sagt eine Studentin der Hochschule für bildende Künste, die drei Jahre im Stadtteil gelebt hat. "Das Inselgefühl hat mein Fernweh gestillt, alles war angenehm unhip. Ich mochte die Ruhe, die Straßenfeste mit lauter Autoradiomusik, die Mischung verschiedenster Nationalitäten, Studenten und alter Hafenarbeiter." Nun lebt sie bei ihrem Freund im Grindelviertel, vermisst "Elbe, Bahngeratter und supergünstiges Gemüse vom Türken um die Ecke". Manch einer mag beim Betreten der Veddel einen Kulturschock erleiden, für andere macht genau das den Reiz des Viertels aus.

Geschütztes Milieu

Vom baulichen Standpunkt aus betrachtet, gehört die Veddel zu den schöneren Ecken der Stadt. Viele Gebäude sind denkmalgeschützt, weshalb der gesamte Stadtteil als milieugeschützt gilt. Wer hier bauen will, muss die Erlaubnis der Denkmalschutzbehörde einholen. Vor allem auf der Veddeler Brückenstraße, der Zufahrt zu den neuen Elbbrücken, findet man sie in großer Zahl, die Rotklinker-Schumacher-Bauten aus den 1920er-Jahren. Morgens, wenn die Kinder in der Schule sind, die Hausfrauen kochen und die Beschäftigten ausgerückt sind, ist es still hier. Erst am späten Nachmittag kommt Leben in die Straße, was bei sommerlichen Temperaturen durchaus an die Flanierboulevards in südlichen Ländern erinnert: Hier ein Getränk, dort ein Schnack, Musik weht durch die Luft.

Die Veddeler Brückenstraße ist auch die Trennmeile, hinter der die neu inszenierte Veddel beginnt, die - wenn sich die Dinge entwickeln, wie die Stadtplaner es wünschen - im Zuge der Internationalen Bauausstellung (IBA) kräftig an Fahrt aufnimmt. Insgesamt 50 Bauprojekte auf der Veddel, in Wilhelmsburg und im Harburger Binnenhafen sollen auf Initiative der Stadt (und bezuschusst mit insgesamt rund 90 Millionen Euro) bis Ende 2013 unter dem Motto "Entwürfe für die Zukunft der Metropole" realisiert werden.

Die Veddel war schon vor mehr als 100 Jahren ein Ort, der Geschichten erzählt; ein Ort des Aufbruchs für Menschen aus den verschiedensten Ländern und Kulturen. Kein passenderer Ort ließe sich finden für das Auswanderermuseum BallinStadt - gelegen genau dort, wo sich rund fünf Millionen Menschen zwischen 1850 und 1939 über Hamburg aufmachten in eine verheißungsvollere Zukunft. Hier können die Besucher sämtliche Phasen der Emigration nacherleben. Wohn- und Schlafpavillons auf den Auswandererschiffen sind originalgetreu nachgebaut, historische Exponate wie alte Passagierbriefe neben interaktiven Audio- und Videoelementen ausgestellt. Wer mag, kann hier sogar Familienforschung betreiben und im weltweit größten Bestand an Passagierlisten stöbern. 90 000 Besucher pro Jahr strömen in das Museum, darunter 2000 Schüler.

Eines der kinderreichsten Viertel

Francine Lammar von "Veddel aktiv" blickt von ihrem Arbeitsplatz in der Stadtteilbücherei auf den Schulhof der Schule Slomanstieg (benannt nach dem Reeder Robert Miles Sloman), die rund 400 Kinder besuchen. Leseübungen werden in der gut besuchten Bücherei angeboten, "Gedichte für Wichte" organisiert für Eltern mit Kleinkindern, Astrid Lindgrens Schwedenklassiker "Madita" steht im Regal neben dem Jugendbestseller "Gregs Tagebuch" - es gibt Geschichten, die überall verstanden, geliebt werden, in der ganzen Stadt, auf der ganzen Welt. Die Veddel ist einer der kinderreichsten Stadtteile Hamburgs. Und nicht nur deshalb ein Viertel, das eine spannende Zukunft vor sich hat.

In der nächsten Folge am 24.9.: Langenhorn