Die Kanzlerin scheint unschlagbar. Es sei denn, man greift sie in der Sozialpolitik an

Der Begriff ist unaussprechlich, und innerhalb der Union hört man ihn nur ungern: Die sogenannte "Asymmetrische Demobilisierung" gilt seit dem Regierungsantritt Angela Merkels vor sieben Jahren als die wichtigste strategische Waffe der Kanzlerin. Indem Merkel die politischen Schwerpunkte immer weiter nach links rückt, gelingt es ihr, ihren Hauptgegner SPD und deren Anhängerschaft zu demobilisieren. Angesichts einer sozialdemokratisierten CDU sollen potenzielle SPD-Wähler die Lust verlieren, überhaupt zur Wahl zu gehen und den Sozialdemokraten ihre Stimmen zu geben. 2009 funktionierte Merkels Strategie einwandfrei. Die SPD lag mit 23 Prozent am Boden.

Auch die momentane Umfragenlage lässt darauf schließen, dass die SPD an der Merkel-Union schier verzweifeln müsste. Bei zwölf Prozentpunkten Unterschied zwischen CDU und SPD, und das nur ein Jahr vor dem Wahltag, käme derzeit kein Politstratege auf die Idee, dass Merkels demobilisierender Politikstil sich noch rächen könnte.

Anders als 2009, als die Wähler Merkels Große Koalition für reformschwach hielten und der Kanzlerin lieber eine starke FDP zur Seite stellen wollten, ist die nationale Gemütslage diesmal kaum einzuschätzen. Es liegt an der diffusen Aufgabenverteilung der Koalitionspartner.

Galt bei Helmut Kohl noch die Devise, dass seine Union für das soziale Gesicht und die Liberalen für die marktwirtschaftliche Stärke des schwarz-gelben Bündnisses standen, tappt man bei Merkels Koalition im Dunkeln. Denn Merkels Achillesferse ist die Sozialpolitik. Diese streift die Kanzlerin in Regierungserklärungen lieber nur am Rande. Selbst in Interviews spürt man schnell, dass sie bei Fragen nach Mindestlohn und Elterngeld mit geringer Begeisterung und Leidenschaft den Sachstand der eigenen Partei abspult. Gestern, als sie im Rahmen einer großen Pressekonferenz ihr Regierungshandeln erklärte, war es kaum anders.

Im Vergleich zu ihren Chefsachen Energiewende und Euro-Rettung findet Merkel Sozialthemen eher leidig. So sollen nach ihren Vorstellungen zuerst Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und die FDP die Rentenfrage untereinander klären. Aber auf die Idee, einen Rentengipfel einzuberufen, käme Merkel nicht. Auch will die Kanzlerin das Betreuungsgeld einführen, aber den politischen Kampf darum überlässt sie der Unionsfraktion. Sie will eine Frauenquote, aber deren Ausführung soll bitte so flexibel ausgestaltet sein, dass sie die Wirtschaft nicht unter Druck setzen darf. So bleibt die Kanzlerin profillos und die Union gleich mit ihr.

Stattdessen spricht Merkel genüsslich über den Unterschied von Geld- und Fiskalpolitik, darüber, wie sich die Euro-Gruppe innerhalb der EU formieren muss oder wie der Kontinent die systemische Störung seiner Zinspolitik beheben könnte. Das sind ihre Themen. Bei der Rettung der Gemeinschaftswährung soll ihr keiner etwas vormachen. Diese Botschaft sendet sie an die Wähler. Nur wird das merkelsche Kernthema Europa 2013 kaum reichen, den Gegner asymmetrisch zu demobilisieren.

Sozialpolitik ist Gesellschaftspolitik, an der Kanzler gemessen werden. Hier sind Visionen, Ideen und Mut gefragt. Vor diesem Hintergrund ist die Selbstbeschäftigung der SPD ein Ärgernis für jeden unentschlossenen Wähler. Die demobilisierten Sozialdemokraten wissen noch immer nicht, wer Merkel herausfordern soll. Bekanntlich wollen sie nicht einmal einen "Wahlkampf gegen die Kanzlerin" führen. So hatte es Parteichef Sigmar Gabriel im Januar allen Ernstes angekündigt. Klar, mit billiger Anti-Banken-Polemik, an der sich Gabriel versucht hat, prallt man natürlich an Teflon-Merkel und viel mehr an den Wählern ab. Die Kanzlerin hat anderswo ihre Schwächen. Man muss sie nur benennen.