Wenn Mediziner zu Mördern werden: In Hamburg töteten während der NS-Zeit Ärzte Dutzende behinderter Kinder. Genehmigung kam direkt aus Berlin.

Gerda wurde am 7. Januar 1939 in Eidelstedt geboren. Das kleine Mädchen unterschied sich von anderen Säuglingen und machte ihren Eltern bald Sorgen. Wahrscheinlich fühlten sie sich mit dem offensichtlich kranken Kind überfordert, denn sie gaben ihre Gerda am 21. Mai 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn. Würde man sie dort pflegen oder gar heilen, wie es der Name dieser medizinischen Einrichtung versprach? Wir wissen nicht, mit welchen Gefühlen die Mutter ihr Kind in Langenhorn zurückließ und ob der Kleinen der Abschied schwerfiel.

Der Arzt, der Gerda dort untersuchte, hieß Friedrich Knigge , war damals 40 Jahre alt und kein Kinderarzt, sondern Psychiater. Er diagnostizierte "mongoloide Idiotie" und gab Namen und Daten an den "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden" weiter. Für Gerda war es das Todesurteil. Sie starb am 8. August 1941, wurde von jenen ermordet, in deren Obhut sie sich befunden hatte: von Hamburger Ärzten.

Gerdas Krankenakte wird im Hamburger Staatsarchiv verwahrt. Dort findet sich Knigges Bemerkung, dass Gerdas Eltern es nicht bereuen würden, wenn "das Kind von allem erlöst" werde. Was wird der Arzt ihnen zuvor gesagt haben? Und hatten die Eltern eine Vorstellung davon, was diese "Erlösung" tatsächlich bedeutete? In der Akte steht schließlich noch die lapidare Bemerkung "Gehirn zur Conservierung abgegeben".

Die Hirnpräparate gelangten, wie die zahlreicher weiterer ermordeter Kinder, in die neuropathalogische Sammlung der Universitätsklinik Eppendorf, wo sie der Forschung dienten.

Am 15. September werden Gerdas sterbliche Überreste in einer feierlichen Gedenkstunde auf dem Ohlsdorfer Friedhof beigesetzt. Zusammen mit denen von Werner, der noch vor seinem ersten Geburtstag ermordet wurde, von Marianne, die ein Jahr alt wurde, von Dieter und von Agnes Erna, die die Ärzte als Dreijährige umbrachten. Mehr als 70 Jahre nach ihrem Tod werden sie nun in einem Trauerzug zur Grabstätte auf dem Ehrenfeld für NS-Verfolgte der Geschwister-Scholl-Stiftung geleitet. An das Schicksal dieser fünf Kinder und etwa 80 anderer wehrloser Menschen, die allein in Hamburg der Kinder-Euthanasie zum Opfer fielen, werden Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Dorothee Stapelfeldt und Heinz-Peter Schmiedebach, der Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE, in Ansprachen erinnern.

+++ NS-Zeit: Ärzte töteten Dutzende Hamburger Kinder +++

Zugleich zeigt das Medizinhistorische Museum Hamburg noch bis zum 11. November die Ausstellung "Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit" (siehe Extratext), die mit zahlreichen Dokumenten schildert, wie es dazu kommen konnte, dass zwischen 1939 und 1945 etwa 5000 Kinder und Jugendliche in eigens dafür geschaffenen medizinischen Einrichtungen ermordet wurden.

Von diesen deutschlandweit mehr als 30 Kinderfachabteilungen gab es in Hamburg allein zwei, neben Langenhorn auch am Kinderkrankenhaus Rothenburgsort. Dort war der Kinderarzt Wilhelm Bayer Chef und damit zuständig für den planmäßigen Mord an jungen Menschen, die nach NS-Ideologie als "lebensunwert" galten.

Wie konnten Ärzte, die sich dazu verpflichtet hatten, ihren Patienten niemals zu schaden, dazu kommen, Kinder planmäßig zu ermorden? Thomas Beddies, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der Medizin der Berliner Charité die Ausstellung konzipiert hat, erinnert daran, dass es bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten unter Ärzten und Juristen Diskussionen über die aktive Tötung kranker und behinderter Menschen gegeben hat.

1920 veröffentlichten der Leipziger Jura-Professor Karl Binding und der Freiburger Psychiater Alfred Hoche eine Schrift unter dem programmatischen Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - Ihr Maß und ihre Form". Darin wird dem Leben von Menschen mit geistigen Behinderungen jeder Wert abgesprochen. Zudem seien sie für die Gesellschaft eine schwere Belastung. Mitleid müsse man mit diesen "geistig Toten" nicht empfinden, da sie nicht leiden würden: "Wo kein Leiden ist, ist auch kein Mitleiden." In der Weimarer Republik stießen solche zutiefst inhumanen Positionen noch auf Widerspruch, doch die Zeiten änderten sich, was Binding und Hoche bereits bewusst zu sein schien. Sie schrieben: "Wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt."

Friedrich Knigge stimmte dem ausdrücklich zu. Für ihn stand außer Frage, dass es unter "rassenhygienischen" Gesichtspunkten notwendig sei, "lebensunwertes Leben" zu vernichten. Moralische Skrupel hatte der überzeugte Nationalsozialist ganz sicher nicht. Nachdem er Ende 1940 an einer Sitzung des "Reichsausschusses" in Berlin teilgenommen hatte, übernahm er die neu eingerichtete Kinderfachabteilung in Langenhorn, um hier mit kalter Präzision und ohne Mitleid das Euthanasie-Programm umzusetzen. Obwohl er und seine Kollegen weder rechtliche noch ethische Bedenken kannten, wurde die Tötung nicht offen als solche bezeichnet. Es gab vielmehr Codes, Umschreibungen, Euphemismen. Oft war von Behandlung die Rede, wenn es in Wahrheit um Tötung ging.

Wilhelm Bayer verhielt sich nicht anders. Einige der ihm hier anvertrauten Kinder ließ er einfach verhungern, andere wurden in andere Anstalten verlegt, wenige entlassen. Die Tötung von Kindern durch Medikamentengaben vollzog er in manchen Fällen selbst, oft delegierte er den direkten Mord jedoch an die meist sehr jungen Assistenzärztinnen, die anstelle ihrer zur Wehrmacht eingezogenen männlichen Kollegen Dienst taten.

Dass die jungen Medizinerinnen nicht protestierten und nur selten Vorbehalte äußerten, dürfte einerseits daran liegen, dass auch sie die nationalsozialistische Ideologie verinnerlicht hatten, andererseits aber auch an der strengen Hierarchie des Klinikalltags.

+++ Ausstellungseröffnung: "Im Gedenken der Kinder" +++

Trotzdem fällt es schwer, sich vorzustellen, wie es junge Ärztinnen damals fertigbrachten, wehrlosen Kindern das tödliche Gift zu injizieren.

Die Assistenzärztin Ortrud von Lamezan beschrieb den Ablauf anhand eines konkreten Beispiels wie folgt: "Fräulein Albers legte mir das Kind auf die Station und sagte mir, dass A. H. ein Reichsausschußkind sei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich von einem 'Reichsausschußverfahren' und einer 'Euthanasie' noch nichts gesehen und gehört. Fräulein Albers sagte mir, wenn eine Genehmigung aus Berlin komme, dann müsste ich dem Kind auch eine Spritze von zehn ccm Luminal geben, dabei wiederholte sie noch, dass dieses alles gesetzlich sei. Fräulein Albers trug mir alles in sehr energischer Weise vor." Weiter heißt es: "Ich habe sodann zu der Stationsschwester Holzhausen gesagt, dass die Genehmigung vorliege. Schwester Holzhausen wusste über diese Sachen Bescheid. Ich schrieb ein Rezept über zehn ccm Luminal und ließ dies an die Hausapotheke gehen und erhielt 10 Ampullen Luminal ausgehändigt. (...) Ich habe mich dann im Oktober 44 eines Tages zur Gedeckzeit mit der Stationsschwester Holzhausen in das Zimmer begeben, in dem A. H. lag. Die Schwester Holzhausen hielt das Kind, das weiß ich genau, und ich habe A. H. die Spritze von zehn Kubikzentimeter Luminal in den oberen Quadranten des Gesäßes gegeben. Dass die Spritze tödlich wirken würde, war mir bekannt. Fräulein Albers hatte mir gesagt, dass die Kinder nach der Luminal-Injektion eine Pneumonie bekommen würden. Ich glaube mich zu erinnern, dass Fräulein Albers mir gesagt hatte, ich solle die Verabfolgung der Luminal-Injektion nicht in der Krankengeschichte vermerken. Genau weiß ich aber, dass sie mir sagte, ich hätte auf dem Totenschein als Todesursache Pneumonie anzugeben."

Befehl und Gehorsam waren in einer Gesellschaft, in der das Führerprinzip galt, übliche Verhaltensmuster. Obwohl sie gewiss unter enormem seelischen Druck standen, stellten die jungen Medizinerinnen die Morde nicht grundsätzlich infrage. "Ich möchte annehmen, dass wir Assistenzärztinnen alle positiv zur Euthanasie an geisteskranken Kindern standen. Ich habe jedenfalls nicht gemerkt, dass irgendeine von uns der Euthanasie ablehnend gegenüberstand", erinnerte sich Ingeborg Wetzel, die in Rothenburgsort Dienst tat.

Auch nach dem Ende der NS-Zeit zeigten viele der beteiligten Mediziner keine Einsicht. In beiden deutschen Staaten konnten nicht wenige von ihnen ihre Karrieren fortsetzen. Die meisten wurden nicht belangt, oft nicht einmal angeklagt. Wenn es überhaupt zu Prozessen kam, urteilten oft ehemalige Nazi-Richter über ehemalige Nazi-Ärzte, mit vorhersehbarem Ergebnis.

Als drei Medizinstudenten im Mai 1945 von einer Krankenschwester über die Kindermorde in Rothenburgsort informiert wurden, zeigten sie Wilhelm Bayer bei den britischen Behörden an. Daraufhin wurden er und später auch Friedrich Knigge entlassen. Statt Einsicht zu zeigen, fühlten sich die Mediziner ungerecht behandelt In einer Stellungnahme schrieb Bayer: "Was das angebliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit anbelangt, so muss ich das deshalb ablehnen, da ein solches Verbrechen nur gegen Menschen begangen werden kann, und die Lebewesen, die hier zur Behandlung standen, sind nicht als 'Menschen' zu bezeichnen."

Friedrich Knigge starb 1947 an Kinderlähmung in Hamburg. Bayer, der bis 1972 lebte, bekam seinen Leitungsposten zwar nicht zurück, konnte aber ab 1952 wieder eine Privatpraxis betreiben. Die Hamburger Ärztekammer, die seinen Fall später noch einmal untersuchte, konnte "keine schweren sittlichen Verfehlungen" feststellen.

Erst im Jahr 2009 stieß der Doktorand Marc Bulon bei seinen Forschungen auf Hinweise darauf, dass Präparate von getöteten Kindern im UKE zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet worden sind. "Mir war klar, dass wir diese Kinder finden wollen, ja finden müssen. Das waren wir uns selbst, dem UKE und Hamburg schuldig - und ganz besonders den Opfern selbst", sagte Prof. Schmiedbach dem Abendblatt.

Tausende Einzelpräparate aus dem Archiv wurden untersucht, fünf davon konnten Kindern zugeordnet werden, die aus Hamburg stammten. Gerda war eines von ihnen.