In den Sechzigern half die Hamburgerin dem italienischen Seemann. Ohne Geld irrte Mino Brancolini durch Hamburg. Jetzt treffen sich beide.

Die besten Geschichten schreibt das Leben. Sagt man und meint Geschichten, die beim ersten Lesen unglaublich sind. Die wie ausgedacht erscheinen. Wunderschön, aber nicht wirklich. Die Geschichte von Mino Brancolini und Barbara Munzer ist so eine Geschichte. Weil sie vor mehr als 50 Jahren mit einer scheinbar unbedeutenden Begegnung am Hamburger Hauptbahnhof begann, aber ein halbes Jahrhundert später zu dem wird, was sie ist. Eine jener Geschichten, wie sie nur das Leben schreiben kann.

Sie beginnt Anfang der 1960er-Jahre. Als es die Kuba-Krise und den Contergan-Skandal gibt. Als die Berliner Mauer gebaut wird und die Elbe Hamburg überflutet. Und als sich ein junger italienischer Geometer nach seinem Schulabschluss aufmacht, um die Welt zu sehen.

Da er nicht genug Geld fürs Reisen hat, will er mit einem Freund im schwedischen Göteborg als Seemann anheuern. Keiner von ihnen denkt daran, dass der Winter in Nordeuropa nicht derselbe Winter wie in Italien ist. Dass er kälter ist, härter als im Süden Europas. Viele Schiffe liegen still, es gibt keine Arbeit für den jungen Vermessungsexperten und seinen Freund. Tagelang suchen die beiden in der Stadt nach einen Job, dann haben sie kaum noch Geld. Mit ihren letzten Ersparnissen schlagen sie sich nach Hamburg durch.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist das nun her, doch Mino Brancolini kann sich an jedes Detail seiner Odyssee erinnern. Daran, wie er als 23-Jähriger mit seinem Freund völlig übermüdet, hungrig und pleite in Hamburg eintrifft. Wie sie sich zur Seemannsunterkunft "Stella Maris" aufmachen und auf eine Übernachtungsmöglichkeit hoffen - und abgewiesen werden, weil sie kein Geld haben. Und wie es zum Streit der Freunde kommt. Zum Zerwürfnis, zur Trennung. Mino Brancolini weiß nicht mehr, worum es bei dem Streit ging. Aber er weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat, plötzlich allein in der fremden Stadt zu sein. Durch Hamburg zu irren. Freitag. Sonnabend. Sonntag. Ohne richtig zu schlafen, ohne zu essen, ohne warme Klamotten. Ohne Hilfe. Ohne eine Idee, wie es weitergehen könnte. Die besten Geschichten schreibt das Leben. Sagt man. Das Leben, das zwei Menschen zusammenführt und ihre Geschichten miteinander verwebt, auch wenn sie es in diesem Moment nicht ahnen. Das Leben, das ein junges Mädchen aus Wilhelmsburg zum Hauptbahnhof führt und für den gestrandeten Mino Brancolini zur "Retterin" werden lässt. Weil sie ihn aus der schwierigen Situation gerettet hat, als es scheinbar keinen Ausweg daraus gab. Weil sie ihm geholfen hat, als niemand sonst es tat. Und weil es für sie nichts Besonderes war, nur eine gute Tat für den Augenblick, an die sie nie mehr gedacht hat. Mino Brancolini schon.

Mino Brancolini, der sagt, dass er damals vor Hunger und Kälte keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Bis er das Mädchen am Blumengeschäft sieht. Anfang 20, hübsch, ruhig. Nicht in Eile, wie die anderen, nicht so abweisend. Es ist Barbara Feser, die eine Ausbildung als Chemielaborantin im Forschungslabor der Margarineunion in Hamburg-Bahrenfeld macht und auf dem Heimweg ist. Sie ist gut gelaunt, glücklich. Vielleicht weil sie eine gute Note bekommen hat, vielleicht weil sie verliebt ist. Barbara Feser erinnert sich heute nicht mehr an den Grund. Aber sie erinnert sich noch genau an den Moment, als der junge Mann sie anspricht. Sie sieht sofort, dass er verzweifelt ist. Dass er Angst hat und Hilfe braucht. Also geht sie mit ihm zu einem Postschalter, hebt zehn Mark ab und gibt sie ihm. Dann verschwindet sie. Scheinbar für immer.

Es ist der Winter 1962/1963. Barbara Feser bekommt als Lehrling rund 50 Mark im Monat. Ein Ei kostet 21 Pfennig, ein Liter Benzin 59,8 Pfennig und fünf Kilo Kartoffeln 1,39 DM. Für ein Kilogramm Butter bezahlt man 6,50 Mark, für ein Bier auf dem Oktoberfest 1,90. Für zehn Mark bekommt man knapp zwei Kilo Rindfleisch. Zwei Kilo Rindfleisch - oder neue Hoffnung. So wie Mino Brancolini. Er sagt heute, dass das Geld wie eine Vitaminspritze gewesen sei. Dass es ihm geholfen habe, wieder klar zu denken. Einen Plan zu machen. Er schickt ein Telegramm an seine Familie in Italien und geht zum Hotel Imperial auf der Reeperbahn, wo er ein paar Monate zuvor eine knappe Woche lang gewohnt hatte. Der Nachtportier kann sich an ihn erinnern und gibt ihm ein Zimmer - auch ohne Geld. "Es ist unbeschreiblich, wie schön es war, nach der ganzen Zeit auf der Straße in einem geheizten Zimmer ins Bett gehen zu können und nach draußen in die Kälte zu sehen", erinnert sich Mino Brancolini genau an diesen Moment und erzählt, wie es weiterging. Wie er bereits am nächsten Tag das Geld aus Italien bekommt, seine Schulden im Hotel bezahlt und nach Hause reist. Und wie er immer wieder versucht, Kontakt zu Barbara Feser aufzunehmen. Briefe an ihre Adresse in Wilhelmsburg schreibt, aber nie eine Antwort bekommt. 50 Jahre lang nicht.

Das Leben schreibt die besten Geschichten. Sagt man. Auch wenn sich die Geschichte von Mino Brancolini und Barbara Feser erst einmal wie die Geschichte von vielen anderen liest. Beide gehen getrennte Wege, heiraten, bekommen Kinder. Barbara Feser zieht in die Schweiz, Mino Brancolini nach Dänemark und dann irgendwann zurück nach Italien. Immer wieder kommt er auf seinen Reisen durch Hamburg. Immer wieder nimmt er sich vor, einfach nach Wilhelmsburg zu Barbara Feser zu fahren und ihr das Geld zurückzugeben. Und immer wieder kommt etwas dazwischen. Vergessen kann Mino Brancolini das Mädchen mit den zehn Mark trotzdem nicht. Nie. 50 Jahre nicht. Deswegen unternimmt er vor ein paar Wochen einen letzten Versuch, um seine Hamburger Deern ausfindig zu machen. Um den "Engel zu finden, der mich aus einer verzweifelten Situation gerettet hat", wie er selbst sagt. Er startet einen Aufruf im Hamburger Abendblatt und sucht nach "Barbara Feser, die Anfang der 1960er-Jahre in der Kirchdorfer Straße in Wilhelmsburg gelebt hat?".

An dieser Stelle beginnt die Geschichte von Mino Brancolini und Barbara Feser, die sie zu einer jener Geschichten macht, die nur das Leben schreibt. Denn obwohl Barbara Feser schon seit mehr als 45 Jahren nicht mehr in Deutschland lebt und längst Barbara Munzer heißt, erfährt sie von dem Aufruf im Abendblatt - über ihre Schwester und ihren Schwager, die immer noch in Wilhelmsburg leben. Was sie von ihnen hört, kann sie kaum glauben. "Ich bin tief beeindruckt, dass ich Herrn Brancolini so sehr helfen konnte, dass er mich nach 50 Jahren immer noch gesucht hat, um mir Danke zu sagen", sagt Barbara Munzer, ehemals Feser. Für sie war es nur eine gute Tat für den Moment gewesen. Für Mino Brancolini nicht.

Er ist inzwischen 73 Jahre alt und beruflich erfolgreich. Doch die Not von damals hat er nicht vergessen. Und seine "Retterin" auch nicht. Deswegen wollte er sich jetzt noch einmal bei ihr bedanken. Nicht per E-Mail oder Fax, Telegramm oder Telefon. Sondern persönlich. Weil es Dinge gibt, die man nur persönlich ausdrücken kann. Nicht in Worten, sondern in Gesten. Deswegen haben sich Mino Brancolini und Barbara Feser jetzt in Italien getroffen - ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Begegnung.

Die besten Geschichten schreibt das Leben. Sagt man und meint Geschichten, die irgendwie unglaublich sind. Die wie ausgedacht erscheinen. Und für die es manchmal keine passenden Worte gibt. Weil Worte den Zauber des Augenblicks zerstören können. Den Zauber, als sich Mino Brancolini und Barbara Feser zum ersten Mal nach 50 Jahren am Bahnhof Milano wiedersehen - und sofort erkennen. Den Zauber, sofort vertraut zu sein und über das Leben zu philosophieren - in Englisch, Deutsch und Italienisch. Den Zauber, vier Tage miteinander zu verbringen und zu wissen, dass man danach zwar getrennte Wege geht, aber nicht getrennt sein wird. Sondern irgendwie verbunden bleibt. Deswegen hat Mino Brancolini Barbara Feser eine Kette geschenkt. Es ist mehr als ein Schmuckstück, ein Dankeschön. Es ist ein Zeichen, eine Erinnerung. Eine Erinnerung an eine jener Geschichten, die nur das Leben schreibt.