Die Politik hat beim Organspende-Skandal das Ziel aus den Augen verloren

Der Verdacht gegen den Transplantationsmediziner aus Göttingen, der mit krimineller Energie Daten gefälscht haben soll, um seine eigenen todkranken Patienten bei der Vergabe eines Spenderorgans zu bevorzugen, schlägt zu Recht hohe Wellen. Die Vorwürfe sind schlimm genug, um das ganze System auf den Prüfstand zu stellen. Denn nicht nur besorgte Bürger, die sich fragen, ob sie noch einen Spenderausweis ausfüllen sollen, erwarten Aufklärung und einen Schutz gegen Missbrauch. Viel wichtiger noch sind die Ängste derer, die auf einer Warteliste stehen und monate-, manchmal jahrelang bangen, ob ihre lebensgefährliche Erkrankung ihnen überhaupt noch so viel Zeit lässt.

Ob die Sorge über die Todkranken, um deren Überleben es am Ende geht, in der hektischen Berliner Betriebsamkeit unübersichtlich vieler partei- und verbandspolitischer Interessen wirklich im Mittelpunkt steht, darf in diesen Tagen jedoch bezweifelt werden. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat die komplette Lobby-Palette zu Beratungen gebeten: die Spitzen der Fraktionen, die Vertreter der Ärzte, der Kassen und der Organspende-Stiftungen. Bei einer so breiten Beraterschar herrscht schon im Vorfeld keine Einigung, ob bei Organspenden in Deutschland überhaupt im großen Stil was falschläuft, wer im Zweifelsfall dafür verantwortlich ist und wie ein möglicher Missstand in Zukunft unterbunden werden kann. Die Ärzte geben schon mal Entwarnung: Es gebe gar kein grundsätzliches Versagen, nur den Betrug Einzelner, und nennen als Beleg gut 100 Richtlinienverstöße bei 50 000 Fällen. Am anderen Ende des Meinungsspektrums hat sich die Hospiz-Stiftung platziert mit der gewagtesten Forderung, das komplette Organspende-Verteilsystem in staatliche Hände zu legen und nicht mehr der Ärzte-Selbstverwaltung zu überlassen.

Ob aber ausgerechnet ein liberaler Gesundheitsminister das Heil in einer neuen zentralen Bundesbehörde sieht, ist wohl unwahrscheinlich. Obwohl politische Grundüberzeugungen inzwischen ja in Rekordzeit über Bord geworfen werden, sobald am Horizont eine tatsächliche oder vermeintliche Krise aufkreuzt, die es angeblich erfordert, "alternativlos" bekämpft werden zu müssen.

Auch der Vorschlag aus Hamburg, die Zahl der Transplantationszentren zu verringern, macht ungefähr so viel Sinn, als würde man - um Steuerbetrüger zu bekämpfen - die Zahl der Finanzämter reduzieren. So denken Bürokraten, die fürchten, dass ihnen ein zu groß geratenes Kontrollfeld zugemutet wird.

In dieser Vielfalt merkwürdiger Machbarkeitsfantasien geht leider der Blick auf das Wesentliche verloren. Was ist das Grundübel, das den Arzt aus Göttingen verleitet hat, das Leben seiner Patienten über das anderer zu stellen? Es ist der Mangel an Spenderorganen, den es in dieser Form in ebenfalls hochzivilisierten Nachbarländern gar nicht gibt. Denn sie haben eine einfache, unbürokratische und effektive Form gefunden, über so viele Organe zu verfügen, damit etwa ein Schwernierenkranker nur ein paar Wochen auf die rettende OP wartet - und nicht Jahre mit dem Risiko, vorher zu sterben.

Aber Deutschland mit seiner ausgeprägten Bedenkenträger-Kultur setzt lieber auf Briefe der Kassen, die demnächst millionenfach verschickt werden, mit der unverbindlichen Aufforderung, irgendwann einen Spenderausweis auszufüllen. Um einen Skandal wie in Göttingen zu vermeiden, braucht es mehr Mut. Von jedem erwachsenen Bundesbürger könnte der Staat verlangen, sich zu entscheiden: ob er im Todesfall ein Organ spenden will oder nicht. Aber um eine solch klare und unmissverständliche Lösung, wie sie Spanien, Österreich oder Norwegen erfolgreich vormachen, drücken sich hierzulande die Verantwortlichen. Solange sie das tun, wird es Missstände wie in Göttingen geben.