Sie setzen sich dem Vorwurf aus, eine Rabenmutter zu sein. Aber einige Frauen halten es einfach nicht mehr aus und beginnen ein neues Leben.

Ein Mann verlässt seine Frau - das ist nichts Neues. Eine Frau verlässt ihren Mann - auch das kommt häufig vor. In Hamburg wurde 2011 mehr als die Hälfte aller Scheidungsanträge von Frauen gestellt. Aber eine Frau verlässt ihren Mann und ihre Kinder?

Noch sind es wenige Mütter, die aus dem gemeinsamen Haus ausziehen und die Familie zurücklassen, aber es werden immer mehr. Prominentes Beispiel dieser Tage ist die Hamburger FDP-Fraktionschefin Katja Suding. Nach zwölf Jahren Ehe verließ die 36-jährige Politikerin jetzt ihren Ehemann Christian, 46 . Die gemeinsamen Söhne (8, 10) bleiben bei ihrem Mann. Den Vorwurf, Rabenmutter zu sein, weist sie zurück: "Ich tue das Richtige", sagt Suding. "Meine Kinder wissen, wie lieb ich sie habe."

Auch Anja Weidner (Name von der Redaktion geändert) kennt die Vorurteile gegenüber Frauen, die ihre Familie verlassen. Dabei hatte sie den Entschluss, die Kinder bei ihrem Ehemann Thomas Weidner (Name geändert) zu lassen, nur zum Wohle der Kinder gefasst. "Ich will mich beruflich und privat verändern", sagt die 44-jährige Rahlstedterin. "Für die Kinder würde das nur Stress bedeuten, den sie bei ihrem Vater nicht haben."

Ebenso wie Katja Sudings Mann ist Anja Weidners Noch-Ehemann selbstständiger Unternehmer und kann seine Zeit besser einteilen als die gelernte Fremdsprachensekretärin, die zusätzlich zu ihrem Beruf eine Karriere als Fotomodell anstrebt - erste Gespräche hat es bereits gegeben. Damit erfülle sie sich einen Traum, den sie jahrelang zugunsten der Familie zurückgedrängt habe. "Die Anja gab es gar nicht mehr, nur noch Mama", sagt Anja Weidner. "Was mein Mann und meine Kinder wollten, hatte stets Vorrang."

+++ Katja Suding trennt sich von ihrem Mann Christian +++

Die ganz große Liebe sei es nicht gewesen, als sie ihren Mann vor 21 Jahren kennengelernt hatte. "Aber er liebte mich und gab mir das Gefühl, liebenswert zu sein. Am Anfang hatten wir nicht viel Geld, aber wir hatten uns." 1994 wurde geheiratet, vier Jahre später war das erste Kind - ein Mädchen - unterwegs, der Sohn folgte nur ein Jahr darauf. Zu dem Zeitpunkt lebte die Familie noch in einem kleinen Dorf im Süden Deutschlands, "da gab es für mich keine Chance, in meinem Beruf wieder einzusteigen. Aber wo mein Mann war, war auch mein Zuhause, das stellte ich nie infrage." Sie kümmerte sich ausschließlich um die Kinder, vielleicht zu viel, wie sie heute sagt.

In dieser Zeit hatte ihr Mann Karriere gemacht, war als Consultant einer deutschen Luxus-Automarke viel unterwegs und kam eigentlich nur an den Wochenenden nach Hause. "Dann sprachen wir über die Kinder und über seine Arbeit", sagt sie. "Für alles andere war er zu müde." Die Liebe verblasste, der Alltag wurde monoton, "wir lebten uns auseinander, wollten es aber noch nicht bemerken".

Vor einem Jahr ergab sich die Möglichkeit, wieder zurück nach Hamburg zu ziehen. Für Anja Weidner begann ein neues Leben. "Ich fing an, wieder an mich zu denken, ging tanzen und nahm Gesangsunterricht", sagt sie.

Ihr Mann, "ein analytischer Zahlenmensch", lebte ebenfalls auf, vertiefte sich in Börsenspekulationen und Bankenbilanzen, verfolgte rund um die Uhr die Aktienentwicklungen auf seinem Smartphone: "Nur mich nahm er nicht wahr, Zärtlichkeiten gab es nicht mehr." Wenn die Kinder aus der Ganztagsschule kamen, aßen sie schnell Abendbrot, schauten Fernsehen und trafen sich mit Freunden.

Mitte Mai reichte es Anja Weidner. Sie sagte ihrem Mann, dass sie sich von ihm trennen werde. Als sie hinzufügte, dass die Kinder bei ihm blieben und sie allein gehen werde, war er bestürzt. "Aber ich wollte keine Kompromisse mehr in meinem Leben eingehen", sagt Anja Weidner. "Und mit Kindern muss ich das."

Ihre Tochter redet nicht mehr mit ihr, schaut weg, wenn sie kommt, um Sachen aus der Wohnung zu holen: "Ich verstehe sie, an ihrer Stelle wäre ich auch sauer." Ihr Sohn hingegen will einen engen Kontakt halten, ruft sie häufig an und erzählt von seinem Alltag. Mit ihrem Mann spricht sie viel, "als Analytiker will er wissen, wie das passieren konnte". Er hat sie noch nicht aufgegeben und möchte unbedingt wieder mit ihr zusammenkommen. Für Anja Weidner ist das eine unmögliche Vorstellung: "Ich will ihm nicht absprechen, dass er sich ändern kann, aber ich bin mit dem Thema durch."

Sie würde sich freuen, wenn aus der früheren Liebe eine gute Freundschaft würde - allein den Kindern zuliebe: "Ich liebe sie sehr, auch wenn ich sie bei ihrem Vater gelassen habe. Ich hoffe, dass sie mich irgendwann verstehen."

Den Schmerz der Mütter, die eigenen Kinder beim Vater zurückzulassen, kennt Gabriele Wunderlich aus ihrem beruflichen Alltag nur zu gut. Derzeit vertritt die 57 Jahre alte Hamburger Fachanwältin für Familienrecht gleich mehrere Frauen, die ihre Familien verlassen haben - und es gebe immer mehr Fälle dieser Art in der Kanzlei Rotherbaum.

Die Juristin macht das neue Familienbild für diese Entwicklung mitverantwortlich: "Die heutigen Ehefrauen und Mütter sind unabhängig und haben vor dem Nachwuchs die eigene Karriere vorangetrieben", sagt Gabriele Wunderlich. "Dadurch haben sie ein stärkeres Selbstbewusstsein und lassen sich nicht mehr alles gefallen." Während nur wenige Frauen versuchen, nach einer Trennung die eigene Karriere wieder anzukurbeln, geht es den meisten ihrer Klientinnen generell um ihre persönliche Freiheit. Die Hamburger Scheidungsquote unterstützt ihre Thesen (siehe Extratext links).

Oftmals warten die Frauen mit der Trennung, bis die Kinder im Teenageralter sind. Aber wenn die Entscheidung erst einmal getroffen sei, sei sie dann auch endgültig. "Das ist der wesentliche Unterschied zu Männern, die ihre Familie verlassen", sagt die Anwältin.

Viele Männer kehrten nach wenigen Monaten zu ihrer Frau und den Kindern zurück. Es entstehe das Bild einer Auszeit, "nach dem Motto, der beruhigt sich schon wieder". Die meisten Frauen aber kommen nach einer Trennung nicht wieder zurück - was für alle eine extreme Belastung darstellt: "Die Kinder sehen die eigene Mutter als Rabenmutter, und die Gesellschaft verstärkt das noch."

Der Hamburger Paartherapeut Dr. Elmar Basse weiß, warum das so ist: "Mütter, die ihre Familien verlassen, stecken in einem Zwiespalt." Einerseits fühlten sie sich in ihrem neuen Leben wohl, andererseits hätten sie massive Schuldgefühle, die durch die menschliche Evolution archaisch verankert seien. "Evolutionär betrachtet ist die Frau primär für die Kindererziehung zuständig", sagt Dr. Elmar Basse. Dieses archaische Unterbewusstsein stehe in Konflikt mit dem Bewusstsein, die Kinder verlassen zu haben. Durch ständige Selbstreflexion könne die Mutter versuchen, mit der Situation zu leben: "Aber der innere Kampf Kopf gegen Gefühl wird bleiben."

Die plötzlich alleinerziehenden Väter hingegen stehen oft vor erheblichen Problemen in ihrem Alltag. Sie müssen ihr Berufsleben neu ordnen, ihr eigenes Rollenbild innerhalb der Familie ändern und gleichzeitig die Kinder trösten. Den meisten Männern fehle dabei der Rückhalt innerhalb der Männergesellschaft - sie sind mit ihren Problemen allein. "Verlassene Frauen sprechen sich bei ihren Freundinnen aus", sagt Dr. Basse. "Das machen nur die wenigsten Männer."

Viele alleinerziehende Väter erhalten aber Unterstützung aus dem familiären Umfeld. "Da hilft die Oma öfter aus als bei der alleinerziehenden Mutter", sagt Ilka Pein vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter in Hamburg (VAMV). Für die Väter sei die Umstellung ungleich schwieriger, weil sie nun auch die Arbeiten der Mütter übernähmen wie Einkäufe, Kinder zum Sport bringen, Essen machen. "Die neue Rolle fällt vielen Männern anfangs schwer", sagt Ilka Pein. "Für sie ist das eine komplette Lebensumstellung."

In bestimmten Milieus, beispielsweise in Akademikerfamilien, sowie in Familien, die im öffentlichen Leben stehen, werde sich das traditionelle Rollenbild - der Vater geht arbeiten, die Mutter ist für die Kindererziehung zuständig - weiter auflösen. In dieser Entwicklung sieht Dr. Elmar Basse ebenfalls einen Trend. "Fraglich ist, ob es allen Beteiligten damit wirklich besser geht", sagt er.

Die moderne Gesellschaft kommuniziere über Werbung und Medien, dass das Arbeitsleben auch für Mütter unabdingbar für ein glückliches Leben sei. Aber ob das wirklich so ist und die eigenen Probleme dadurch gelöst würden, müsse eigentlich jeder für sich selbst herausfinden.

Für Gabriele Wunderlich, die Hamburger Anwältin für Familienrecht, ist klar, wer am Ende auf der Strecke bleibt, wenn Frauen ihre Familien verlassen: "Für die Kinder ist jede Trennung eine Katastrophe. Geht die Mama fort, fehlt sie im Alltag. Und in den Fällen, die ich bisher erlebt habe, konnten die Väter die Mutter nicht ersetzen."