Vor 70 Jahren umrundete der letzte deutsche Frachtsegler die Landspitze Südamerikas auf der legendären Route. Mit an Bord: Hans Peter Jürgens.

Als Schiffsjunge heuerte er auf der "Priwall" an - ohne zu ahnen, dass es der Beginn einer siebenjährigen Irrfahrt werden sollte. Seine Abenteuer liefern jetzt den Stoff für ein Buch. Mit Abendblatt-Reporter Axel Tiedemann sprach Hans Peter Jürgens über sein Leben.

Hamburger Hafen, 14. Mai 1939: Dunkler Rauch quillt aus den Schornsteinen von Dampfern, die an den Dalben in der Strommitte festgemacht haben. Das Dröhnen von der Blohm&Voss-Werft dringt von Steinwerder herüber, es riecht nach Ruß und brackigem Elbwasser. Hans Peter Jürgens, ein 15-jähriger Junge aus Cuxhaven, klettert an den Landungsbrücken an Bord einer Barkasse. Auf der Schulter trägt er einen Seesack mit neuem Ölzeug, Seestiefeln und Unterwäsche aus Wolle. Sein Ziel ist die Viermastbark "Priwall", die direkt gegenüber von St. Pauli festgemacht hat, wo sie mit Stückgut beladen wird. Lange hatte Hans Peter seinen Vater, einen Kapitän, immer wieder gebeten, selbst zur See fahren zu dürfen. Nun ist es so weit: Der Vater hatte ihn als Schiffsjungen auf den Windjammer vermittelt: einer der nur noch wenigen Segler im Hafen und schon damals ein legendärer "P-Liner" der Hamburger Reederei F. Laeisz. Kein Schiff hatte es bisher geschafft, Kap Hoorn schneller zu umsegeln. Die berüchtigte Landspitze im Süden des amerikanischen Kontinents sollte auch diesmal umrundet werden. Im Südwinter und gegen die harten vorherrschenden Westwinde. In sieben Monaten, zu Weihnachten, wollte er wieder zu Hause bei seinen Eltern sein. Aus sieben Monaten wurden jedoch sieben Jahre: Der Krieg stoppte in Chile die "Priwall", der Cuxhavener Schiffsjunge wurde auf einen Dampfer abgeordert, der im Pazifik die britische Blockade durchbrechen sollte und schließlich auf Grund ging. Jürgens wurde gefangen genommen. Für die deutsche Segelschifffahrt ging gleichzeitig eine Epoche zu Ende. Die "Priwall" sollte der letzte deutsche Frachtsegler gewesen sein, der die legendäre Route um Kap Hoorn geschafft hatte.

Kiel-Holtenau, 70 Jahre später: In einem dunklen, gemütlichen Backsteinhaus unweit vom Nord-Ostsee-Kanal öffnet Kapitän Hans Peter Jürgens die Haustür. Ein Herr mit dichten weißen Haaren und buschigen Augenbrauen. "Der Helmut Schmidt der Segelschifffahrt", wie eine Zeitung einmal geschrieben hat. Er ist der letzte Präsident der deutschen Kap-Hoorn-Vereinigung, die sich 2004 aufgelöst hatte. Weil es nur wenige, sehr alte, Männer gibt, die dazugehören dürften. Jene Seeleute, die auf einem Frachtsegler das Kap umrundet hatten.

Der frühere "Priwall"-Schiffsjunge, spätere Kapitän und Lotse Jürgens ist inzwischen 85 Jahre alt, Vater von zwei erwachsenen Kindern und gilt seit seiner Pensionierung als einer der bekanntesten deutschen Maler maritimer Motive. Über sein abenteuerliches Leben ist vor Kurzem das Buch "Sturm Kap" erschienen. Heute kommt dazu das Hörbuch heraus, gesprochen von "Tatort"-Kommissar Axel Prahl.

Ob er die CD schon gehört und das Buch gelesen hat? "Klar", sagt Jürgens und lächelt verschmitzt. "Ich musste mich doch intensiv darauf vorbereiten, um zu wissen, was ich erlebt habe."

Zwei Jahre lang hatte er sich mit "Sturm Kap"-Autor Stefan Krücken immer wieder getroffen, um dieses Leben zu erzählen. Zwei Generationen liegen zwischen beiden, die sich tief auch in die Gedanken- und Gefühlswelt des damaligen Schiffsjungen hineingearbeitet haben. Herausgekommen ist eine Beschreibung dieser Zeit in der Ich-Form, die kein Geschichtsbuch so erzählen könnte.

Auf der "Priwall" ist Jürgens in der 70-köpfigen Besatzung einer von gut 30 Schiffsjungen, die erstmals an Bord eines Windjammers sind. Eine entbehrungsreiche Zeit steht ihnen nach dem Ablegen am 16. Mai 1939 bevor. Mit Hunger, Kälte, ständiger Nässe, wenig Schlaf und schwerer Arbeit, hoch oben in den Masten. "Wir wurden hart rangenommen, aber das musste sein, die Mannschaft musste zusammengeschweißt werden, blind die Handgriffe beherrschen, damit das Schiff Kap Hoorn bestehen konnte", sagt Jürgens heute.

Im Juli 1939 ist es so weit, die Kap-Umrundung steht bevor: Brecher überspülen immer wieder das Schiff. Leinen sind an Deck gespannt, damit man sich festhalten kann, wenn ein Schwall eiskalten Wassers einen fortspülen will. Über Bord gehen? Es wäre der sichere Tod. Kein Kapitän kann in diesen stürmischen Breiten einen Segler wenden lassen oder Rettungsboote klarmachen. Immer wieder müssen Jürgens und seine Kameraden in den hohen Mast. Kurz nur die Schlafphasen. "Reise, Reise - alle Mann an Deck!" - dieser Befehl reißt die Jungen immer wieder aus dem erschöpften Dämmern. Segel reffen, Segel bergen. Der Sturm drückt sie oben in die Wanten, heult, faucht und pfeift. Furunkel, von Salzwasser und schlechter Nahrung entstanden, scheuern im Nacken am Ölzeug, das sie jetzt tagelang nicht ausziehen können. "Ich dachte nur noch an den Augenblick, an das Überleben", so Jürgens.

Anders als Dampfer können Segelschiffe nicht einfach gegen den Wind um die berüchtigte Landspitze segeln. Sie müssen im Zickzack-Kurs gegen den Wind kreuzen, der hier im freien Seeraum gewaltige Brecher auftürmt. Manche Kurslinie sieht aus wie das erste Krickelkrakel eines Kindes. Ein Jahr zuvor war in diesem Seegebiet mit der "Admiral Karpfanger" ein Hamburger Großsegler mit 60 Mann verschollen. Mehr als 800 Schiffe sind bei Kap Hoorn gesunken oder zerschellt, Zehntausende Männer ertrunken. Gott habe das Kap im Zorn erschaffen, sagen Seeleute.

Doch die "Priwall" segelt unter einem guten Stern, niemand von der Besatzung kommt um. Anfang August 1939, nach drei Wochen im Sturm, legt das Schiff in Chile an. In der Bucht von Valparaíso ist die Reise jedoch zu Ende. Der Zweite Weltkrieg erreicht Schiff und Mannschaft. Auf den Ozeanen versenken Deutsche und Briten auch Handelsschiffe ihrer Feinde oder nehmen sie als Beute. "Unmöglich konnte ein Windjammer ohne Maschine in solchen Zeiten auslaufen. Er wäre ein leichtes Opfer", sagt Jürgens. Die "Priwall"-Besatzung richtet sich daher in der Bucht von Valparaíso ein, eine eher unbeschwerte Zeit beginnt für die Schiffsjungen. Jürgens: "Der Krieg im so fernen Europa interessierte uns zunächst wenig - Politik war ein Tabu-Thema, die ganze Zeit."

1940 werden 16 Besatzungsmitglieder, darunter Schiffsjunge Jürgens, vom Verein Hamburger Reeder zu einem Arbeitseinsatz auf dem Landgut der deutschstämmigen Familie Roth im Süden Chiles eingesetzt. Eine willkommene Abwechslung, die Jürgens "fast wie ein Ferienlager" vorkommt.

Im Mai 1941 erreicht die "Priwall" die Order, dass die Schiffsjungen auf andere deutsche Dampfer, die ebenfalls festliegen, abkommandiert werden sollen. Hans Peter Jürgens kommt auf den Frachter "Erlangen", der bereits einen legendären Ruf hat. Das Schiff war mehreren britischen Kriegsschiffen schon entkommen. Fernab der üblichen Routen hatte es der Kapitän nach Chile gebracht. Lange schon hatte er kaum Kohlen für die Kessel, an einsamen Stränden bei Neuseeland musste die Mannschaft daher Holz schlagen und einbunkern.

Doch 1941 ist das Glück der "Erlangen" aufgebraucht. Der britische Kreuzer "Newcastle" stellt den Dampfer vor Argentinien. Der "Erlangen"-Kapitän gibt daraufhin den Befehl zur Selbstversenkung, damit das Schiff nicht in die Hand des Feindes fällt. Die Mannschaft steigt in die Rettungsboote. Trotzdem wird vom Kriegsschiff eine Salve auf die unbewaffneten deutschen Seeleute gefeuert, drei von ihnen sterben. Die Überlebenden werden an Bord genommen und gelten fortan als Gefangene. Eine Irrfahrt durch viele Lager beginnt: Jürgens und seine Kameraden von der "Erlangen" werden nach Sierra Leone in Westafrika verschifft. Schlangen, Malaria, tropische Schwüle bestimmen das Lagerleben. Im Oktober werden die Gefangenen mit einem Truppentransport im Konvoi nach Europa gebracht.

Jürgens kommt zunächst in ein Lager im schottischen Hochland. 1942 werden die Seeleute nach Kanada verlegt, wo Tausende Deutsche, Soldaten wie Zivilisten, gefangen sind.

Verpflegung und Unterkunft sind ausgesprochen gut und Jürgens macht hier eine wichtige Erfahrung: Die Seeleute kommen mit der Situation besser zurecht als andere. Sie sind es gewohnt, auf engem Raum zu leben und dabei Ordnung und Sauberkeit walten zu lassen. "Man darf ein Schiff nicht verkommen lassen und sich selbst auch nicht", so Jürgens, "jeden Sonnabend haben wir deshalb mit Gesang unsere Baracke geschrubbt - bei den Soldaten sah das ganz anders aus."

Doch gerade für die Jüngeren ist das Leben hinter Stacheldraht eine Belastung. Mädchen, Tanz, Jugend-Abenteuer, das gibt es für sie nicht. Wochenlang, monatelang, jahrelang leben sie fern der Zivilisation in den Waldlagern. Viele ältere Gefangene - Wissenschaftler, Kapitäne darunter - erkennen die Situation, richten eine Art Akademie ein. Jürgens: "Die wussten, dass wir Ablenkung brauchten." Er selbst bildet sich weiter in Seerecht und Nautik - und in der Malerei bei einem Kunstprofessor.

Erst 1946 kommen die Seeleute in ihre zerstörte Heimat zurück. Die vielen Lagerjahre hatte Jürgens nutzen können, die Liebe und den Drang zur See aber nicht verloren. 1953 macht er sein Kapitänspatent. Die Monate auf der "Priwall", der Sturm vor Kap Hoorn - das war aber seine wichtigste Lehrzeit. "Vieles habe ich nie vergessen", sagt er. Und noch immer ist die legendäre Viermastbark bei ihm präsent. Als Gemälde, das es in einer Sturmfahrt unter bedrohlichem Himmel und mit gerefften Segeln zeigt. Jürgens hat es selbst gemalt. Aus einer Erinnerung, die zu einer längst vergangenen Epoche gehört.