Die Augen sehen Land, die Ohren hören Stadt. Und Grenzen gibt es hier nur auf dem Papier

Gut Moor? Wo ist das denn? Nur wenige Hamburger können das kleine Anhängsel im östlichen Harburg lokalisieren, am wenigsten wohl jene, die nördlich der Elbe wohnen. Der Mini-Stadtteil geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Damals, im Jahr 1630, schenkte der Harburger Herzog Wilhelm das umfangreiche freie Gut Moor seinem Kanzler (Regent von Harburg) J. von Drebber. An die Domäne Kanzlershof erinnern heute noch der Kanzlershofer Weg und eine kleine Siedlung, die noch den Namen trägt und heute zum Nachbarstadtteil Rönneburg gehört. 1937 wurde Gut Moor mit Harburg und Wilhelmsburg durch das Groß-Hamburg-Gesetz der Stadt zugeschlagen.

Wie Perlen an einer Kette reihen sich die Gutshäuser und Höfe der landwirtschaftlich geprägten Siedlung entlang des Großmoordamms auf. Einstmals Dorfstraße, ist der Damm heute eine viel befahrene Verkehrstrasse, die zu den niedersächsischen Orten Bullenhausen, Over und Meckelfeld führt. Der Straßenverkehr setze der Siedlung zu, klagen die alteingesessenen "Moorer". Sie stellen etwa die Hälfte der 117 Einwohner von Gut Moor. Schon immer teilte der Großmoordamm auf einer Länge von gut zwei Kilometern die Siedlung in eine nördliche und eine südliche Hälfte, war aber gleichzeitig die Lebensader des Dorfes.

Lärmteppich über Feuchtwiesen

Viel deutlicher und von keinerlei Nutzen für die Bewohner ist die Ost-West-Teilung: Mitten durch den knapp zwei Quadratkilometer kleinen Stadtteil führt die Autobahn 1 und sorgt für einen immerwährenden Lärmteppich, der sich über die Feuchtwiesen legt. "Mit den Augen wohnt man auf dem Land, mit den Ohren in der Stadt", sagt Ulrich Gauerke. Der Waldorfschullehrer lebt seit vielen Jahren in Gut Moor und gab in der alten Schützenhalle seinen von der Schule am Ehestorfer Heuweg (Hausbruch) anreisenden Schülern Werkunterricht.

Der alte Schützenhof im Westteil des Straßendorfes war bis in die 1970er-Jahre der Magnet einer ganzen Region. "Wir haben dort, bei Willuhn, viel gefeiert, auf den Tischen getanzt", heißt es etwa im fünf Kilometer entfernten Bullenhausen (Niedersachsen).

Die Landesgrenze ist hier im wahrsten Sinne fließend: Zum einen verläuft sie oft entlang der großen Entwässerungsgräben (Wettern), zum anderen besteht sie nur auf dem Papier, nicht aber in den Köpfen der Menschen. Dort bleibt Gut Moor eines von vier Moordörfern, die 1937 auseinandergerissen wurden. Damals bildeten Groß Moor, Klein Moor, Hörsten und Gut Moor eine Einheit - nur das am westlichsten gelegene Gut Moor wurde Hamburg einverleibt. Doch ansonsten lebt die traditionelle Dorfkultur weiter: Im Schützenverein Moor treffen sich noch immer die Bewohner der vier Moordörfer.

Bei der Freiwilligen Feuerwehr Moor werden gemeinsam Brände bekämpft, obwohl Gut Moor formal dem Stadtteil Rönneburg zugeordnet ist. Ein Brand wird alljährlich selbst gelegt: Das Osterfeuer bildet mit dem Schützenfest den gesellschaftlichen Höhepunkt des Jahres. Die Flammen lodern vor dem Gemeinschaftshaus, in dem Schützen und Feuerwehrleute untergebracht sind. Es steht in Groß Moor, am Großmoordamm.

Der Festplatz vor dem Gemeinschaftshaus ist gleichzeitig Endstation des 249er-Busses - mit seiner Fahrzeit von zehn Minuten ab Bahnhof Harburg zum Endpunkt wohl eine der kürzesten Linien Hamburgs. Drei von den sechs Haltestellen der Strecke heißen Großmoordamm, sortiert nach den Hausnummern 121, 181 und 223.

Patchwork auf dem Großmoordamm

Der Fest- und Wendeplatz vor dem Gemeinschaftshaus ist zugleich die letzte Rettung für Lkw-Fahrer, die in Harburg nicht realisiert haben, dass der Weg zur Autobahn 1 nach links abzweigt, und fälschlicherweise geradewegs auf den Großmoordamm gerieten. Bis Niedersachsen bietet er Brummis keine Wendemöglichkeit.

Die Landesgrenze werden Auto- und Radfahrer schnell gewahr: Auf Hamburger Seite ist der Damm ordentlich asphaltiert, doch am Ortsrand von Groß Moor beginnt eine x-fach ausgebesserte Buckelpiste mit unterschiedlich hellen und dunklen Asphaltpflastern - Patchwork im Straßenbau.Naturfreunde kennen eine zweite Grenzmarkierung: das Storchennest auf dem Strohdachhaus Großmoordamm 276 an der einzigen Kreuzung weit und breit. Seit Generationen brüten Störche auf dem 1806 errichteten, ehemaligen Fachwerkhaus, erzählt Jürgen Atzenroth, der unter ihnen aufgewachsen ist. 1949 ist er mit seinen Eltern als Dreijähriger dort eingezogen. Die Störche waren vor ihm da. Atzenroth zeigt ein Familienfoto, von dem er schätzt, dass es im Jahr 1908 aufgenommen wurde - zu sehen ist ein prächtiges Nest, das den Giebel schmückt.

Die Störche gehören mit zur Familie

Die Störche gehören zum Haus, betont Familie Atzenroth. Und sie ist zur Stelle, wenn einmal etwas schiefläuft. So brachte sie vor einigen Jahren einen sehr kleinen Jungstorch ins Tierheim, der aus dem Nest gestoßen wurde. In einem anderen Jahr beobachteten dieAtzenroths, wie ein Elterntier sich an einem viel zu großen Fisch abwürgte. Der Fang fiel zu Boden, Atzenroths sammelten ihn auf, zerteilten ihn und legten ihn in die Wiese. Jetzt im Mai gab es dagegen keine Rettung: Ein Elterntier wurde auf der Autobahn überfahren, so fiel die Brut aus.

Viele Jahre waren die Gut- Moor-Störche das einzige Hamburger Brutpaar südlich der Elbe. Seit einigen Jahren leistet ihnen das "Budni-Paar" Gesellschaft, benannt nach der Drogeriekette, die vor rund 15 Jahren Geld für ein Naturschutzprojekt gab, das für die Störche im Nachbarstadtteil Neuland ein Feuchtwiesenareal mit einem großen Gewässer geschaffen hat. Hier sei das beste Wiesenvogelbrutgebiet Hamburgs entstanden, lobt Harald Köpke vom Umweltverband BUND, der die Fläche betreut. Inzwischen legte die Stadt nach, kaufte 140 Hektar Wiesengrund als Ausgleichsmaßnahmen für andernorts zerstörte Natur und verpachtet ihn mit Naturschutzauflagen. Das Feuchtwiesenareal erstreckt sich über Teile von Neuland und Gut Moor; einen Teil davon betreut die Stiftung Ausgleich Altenwerder. Auf den naturnahen Wiesen im südlichen Bereich residierte in den vergangenen Sommern sogar der Wachtelkönig.

Das Sterben der Landwirtschaft

Traditionell weideten auf den Wiesen Milchkühe. Heute sieht man im Sommer neben kleinen Rindergruppen vereinzelt auch Schafe oder Pferde und ganzjährig absolut furchtlose Rehe, die stoisch auf freier Wildbahn äsen. Die nährstoffarmen, nassen Moorböden machten es der Landwirtschaft schon immer schwer. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam dann der endgültige Niedergang. Wenn ein Bauer in den Ruhestand ging, ging mit ihm der Betrieb. Die kleinen Höfe konnten sich in der EU-finanzierten Agrarindustrie nicht halten. Im August 2010 schloss auch Jürgen Abitz seine Blumengärtnerei - "wir waren der letzte erwerbsmäßige Gartenbau in Harburg", sagt er.

Vor 100 Jahren hatte Gut Moor noch rund 500 Einwohner, jetzt sind es gerade noch etwas mehr als 100. Die Fortzüge überwiegen die Zuzüge. Immerhin, im Haus mit dem Storchennest gibt es keine Nachwuchssorgen: Helmut und Anneliese Atzenroth freuen sich bereits über zwei Enkelkinder.

Die Serie finden Sie auch unter www.abendblatt.de , Die Serie bald als Buch: jetzt bestellen unter www.abendblatt.de/shop oder Telefon 040/347-265 66

In der nächsten Folge am 28.7.: Hoheluft-Ost