Heimat vieler Urgesteine und des ältesten Hamburger Gebäudes. Wenn nur die laute Autobahn nicht wäre...

Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Die Jahre haben genagt an den alten Steinen. Manche Worte erscheinen nur schemenhaft. Ein paar Jahre noch, dann verschwinden sie ganz, abgewaschen vom Regen, verwittert, verblasst. Catharina Dorothea Meyer, Johann Heinrich Meyer, Margarethe Magdalena Menck. Menschen, die in Sinstorf zu Hause waren. Vor mehr als 140 Jahren. Längst wären sie vergessen, hätte man ihre Namen nicht in Stein gemeißelt. Die Gräber stehen im Garten der alten Sinstorfer Kirche. Hier wird Vergänglichkeit schonungslos spürbar.

Nur einen Steinwurf von der trutzigen, schiefwinkligen Kirche entfernt dröhnt die Gegenwart auf der A 7. Der Lärm von Lastwagen und Pkw fliegt bei Westwind ungehindert in den Stadtteil hinein. Über die Gräber, die alten Reetdachhäuser, das Pfarrhaus und die historischen Höfe hinweg. Und man ist für einen Moment froh über diesen Lärm, weil man spürt, dass man jetzt ist, und hier und heute, in diesem Viertel, das seinen Name aus der Mittelhochdeutschen Vorsilbe "sine" und der Endung "torf" zusammensetzt. Das Letztere bedeutet "Dorf". Und das Erste? "Immer während", "dauernd". Sinstorf ist und bleibt: ein Dorf. Das passt.

Begehbares Geschichtsbuch

Für viele Menschen hier am südlichen Ende der Stadt gilt: einmal Sinstorf, immer Sinstorf. Es sind "Urgesteine" wie Dora Oetgen, geborene Meyer, die ein paar Häuser neben der Kirche auf dem alten Hof ihrer Eltern lebt. Und deren Vorfahren auf den alten Grabsteinen zu finden sind. Oder wie Ursula Hastedt, die auf dem großen Gutshof gleich gegenüber der Oetgens zu Hause ist. Die Familie Hastedt erwarb den Hof 1760 von Johann Meyer. Otto und Friedrich Hastedt bauten etwa 1880 die heute noch sehr gut erhaltene Villa, die wie die gewaltige Scheune und die schmucken Stallgebäude unter Denkmalschutz steht.

Überhaupt gleicht Sinstorf einem begehbaren Geschichtsbuch, dessen spannendstes Kapitel die Sinstorfer Kirche, eine Ansgar-Gründung aus dem 9. Jahrhundert, ist. Sie wird unter Historikern gern als das älteste noch stehende Gebäude in Hamburg gehandelt. Durch Ausgrabungen wurde belegt, dass bereits im 9. Jahrhundert parallel zur Nordwand der heutigen Kirche der erste, damals noch hölzerne Kirchenbau errichtet wurde. Vermutlich Ende des 11. Jahrhunderts entstand dann eine dreischiffige Feldsteinbasilika. Im 17. Jahrhundert wurde der Rundturm durch einen hölzernen Glockenturm ersetzt, 1906/07 der Eingang in die östliche Hälfte der Südwand verlegt.

Für solche Informationen nimmt sich Pastorin Antje Schwartau gerne Zeit. Sie wohnt in einem kleinen Fachwerkhaus gleich neben der Kirche. Und das ist gut so. Schließlich gibt es in der Gemeinde viel zu tun. 3300 Mitglieder zählt sie gemeinsam mit dem benachbarten Stadtteil Langenbek. Die Gottesdienste sind gut besucht. 60 bis 80 Menschen kommen hier jeden Sonntag zusammen. Und an den Feiertagen sind die bemalten Holzbänke auf den letzten Platz besetzt. Inzwischen ist die Sinstorfer Kirche eine der beliebtesten Hochzeitskirchen der Stadt.

Jeden Morgen kommt der ehemalige Küster Wichmann mit dem großen Schlüsselbund den steilen Weg zur Kirche hinauf, öffnet die schwere hölzerne Tür zum Kirchenschiff und sorgt auf diese Weise dafür, dass das Gotteshaus für jedermann zu jeder Tageszeit zugänglich ist. Und der Besucher möchte die Zeit anhalten, wenn auch nur für einen Moment - dann nämlich, wenn an einem ganz normalen Montagmorgen die gewaltigen Klänge der Orgel durch das Kirchenschiff hallen und hinaus auf die Straße, vorbei an den Gräbern, sich vermischen mit dem Dröhnen der Autobahn.

+++ Name & Geschichte +++

+++ Die Stadtteil-Patin: Hanna Kastendieck +++

+++ Bekannte Söhne +++

+++ Kurz & knapp +++

+++ Zahlen & Fakten +++

Leben neben der Autobahn

Ein besonderes Fleckchen Sinstorf ist die Käfersiedlung auf dem ehemaligen Flakgelände, deren Straßen allesamt nach Insekten der Gattung Coleoptera benannt sind: Marienkäferweg, Rüsselkäferstieg, Sandkäferweg - um nur einige zu nennen. Hier wurden den Siedlern nach Kriegsende 70 Parzellen zugesprochen. Eine davon ging an die Familie Kruse, deren Sohn Gerd, geboren 1949, noch heute dort zu Hause ist. "Zuerst wurden Stallgebäude gebaut, die alle bewohnt wurden", erinnert er sich. Die ersten Gebäude entstanden aus dem, was die Bomben von Sinstorfs Häusern nach dem Krieg übrig gelassen hatten. Auch heute pflegen die Bewohner einen guten Zusammenhalt. Die Siedlergemeinschaft mit dem putzigen Namen Käferfleiß trifft sich regelmäßig, feiert gemeinsam und fährt aus. Aber es gibt auch Probleme in der Siedlung, die nur 200 Meter von der Autobahn entfernt liegt. Gerd Cruse als Vorsitzender der Gemeinschaft setzt sich seit Jahrzehnten für Verbesserungen ein. Er hat für den Bau von Bürgersteigen genauso gekämpft wie für die Errichtung eines Lärmschutzwalls.

Feiern unter freiem Himmel

Die meisten Menschen in Sinstorf aber haben sich an das ständige Rauschen der Autobahn gewöhnt. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Wiesen bebaut wurden und die Stadt das kleine Dorf nach und nach in die Arme geschlossen hat. Und sie haben sich damit arrangiert, dass es im Stadtteil selbst keinen einzigen Laden mehr gibt. Wer Milch, Brötchen oder eine Zeitung braucht, fährt zu einer der Tankstellen an der Winsener Straße. Oder zu einer der beiden Fast-Food-Ketten, die ihre großen Schilder in den weiten Himmel gen Autobahn recken. Das letzte Gasthaus der Familie Derboven wurde vor 20 Jahren geschlossen. Seitdem müssen die Menschen zum Ausgehen auf andere Stadtteile ausweichen. Oder einfach unter freiem Himmel feiern. Zu Ostern gibt es ein Osterfeuer, im Sommer das Schützenfest des Schützenvereins Sinstorf und im November das große Laternenfest, das Kirchengemeinde und Freiwillige Feuerwehr ausrichten. Gejubelt und gefeiert wird natürlich auch im Sportverein Grün-Weiß Harburg.

Beschaulichkeit am Stadtrand

Und wem das zu wenig ist, wer statt Land- mal wieder Großstadtluft schnuppern möchte, der steigt in den Bus nach Harburg und ist von dort mit der S 3 in 14 Minuten in der Innenstadt. Und froh, wenn er am Abend wieder heimehrt in die Beschaulichkeit am Stadtrand. Zum Einkaufen müssen die Sinstorfer nur kurz über die Stadtteilgrenze nach Langenbek. Oder sie fahren ins niedersächsische Örtchen Hittfeld, das mit dem Auto zehn Minuten entfernt liegt. Und genau das macht den Charme von Sinstorf aus. Dass hier das Ende erreicht ist. Oder der Anfang, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt. Das Ende der Großstadt. Oder der Anfang vom Land. Sinstorf liegt irgendwo dazwischen. Hier kommen die Rehe ans Haus, der Fuchs läuft durch die Gärten, hier gackern Hühner, bellen Hunde und manchmal hoppeln die Hasen über die Terrassen. Zwischen Feldern und Wiesen hindurch schlängelt sich die Engelbek, umsäumt von zahlreichen Wanderwegen. Es gibt Pferdekoppeln und einen großen Wald. Es gibt Idylle. - Und es gibt die A 7.

In der nächsten Folge am 21.7.: Bahrenfeld