Und plötzlich sitzt du im Rollstuhl. Die bewegende Geschichte, wie ein Hamburger Tag für Tag mit Hindernissen in der Stadt zu kämpfen hat.

Er ist einer der erfolgreichsten Kinofilme der vergangenen Jahre: Fast 8,5 Millionen Deutsche sahen bisher "Ziemlich beste Freunde" - die nach wahren Begebenheiten inszenierten Erlebnisse eines gelähmten französischen Millionärs, der durch einen vom Arbeitsamt vermittelten Pfleger aus der Vorstadt neuen Lebensmut findet.

Und die Wirklichkeit in Hamburg? Im Abendblatt schildert ein Rollstuhlfahrer seinen Alltag: Es ist eine bewegende Geschichte ziemlich großer Probleme.

Hamburg Hauptbahnhof, Ausgang ZOB. Heute ist mein ziemlich bester Feind der Fahrstuhl. Er streikt mal wieder, diesmal zum ungünstigsten Zeitpunkt. In zehn Minuten bin ich am Informationsschalter Nord mit einem Mitarbeiter der Bahn verabredet, der mich mit dem Hublifter in den Intercity nach Berlin hieven wird.

Also schnell mit dem Rollstuhl zur nächsten Notrufsäule. "Ja bitte?", schnarrt es aus dem Lautsprecher. Ich schildere mein Dilemma und bekomme den Rat, mit der U 1 zum Jungfernstieg weiterzufahren, von dort mit der U 2 zurück bis Hauptbahnhof Nord. Nette Idee, aber Jungfernstieg ist auf der U-1-Linie nicht barrierefrei. Ganz abgesehen davon, dass ich meinen Zug nach Berlin verpassen würde.

"Okay, ich schicke jemanden", kommt es krächzend aus der Notrufsäule. Tatsächlich tauchen nach wenigen Augenblicken schwarze Uniformen auf: zwei muskelbepackte Kerle vom Sicherheitsdienst. Sie taxieren kurz mein Körpergewicht, schon geht's zwischen zwei Schultern hängend die Treppen rauf. Den Rollstuhl trägt ein hilfsbereiter Russe hinter uns her.

Zum Nachdenken komme ich erst, als der Intercity geräuschlos aus der Halle des Hauptbahnhofs ins Tageslicht gleitet. Um mich herum glühen die Handys, hacken Geschäftsreisende Wichtiges in ihre Laptops. Schon wegen des Gewusels in der 2. Klasse hätte ich gern die ruhigere 1. Klasse genommen. Aber wie hieß es bei der Buchung mal wieder: "Rollstühle nur 2. Klasse!"

Auch 15 Jahre nach der Katastrophe kann ich mich nicht des Gefühls erwehren, ein Loser zu sein.

Rückblende. Im Gegensatz zu Samuel Kochs spektakulärem "Wetten, dass ..?"-Auftritt vor einem Millionenpublikum fand mein "Unfall" im OP eines großen Hamburger Krankenhauses statt. Die Operation meiner Spinalkanalstenose stand auf dem Plan, einer Verengung des Rückenmarkkanals.

"Früher eine heikle Sache, aber inzwischen ein Routineeingriff", wie mir Dr. Sander (Name geändert), Chef der Neurochirurgie, fünf Tage zuvor gesagt hatte. Ich habe die Szene noch genau vor Augen, wie wir im dritten Stock am Fenster der Klinik standen und er mich über den Eingriff und den weiteren Behandlungsverlauf aufklärte. Ein trüber Spätwintertag im März 1998. Draußen war es bereits dunkel, Schneeflocken tanzten im blauen Flackerlicht der vorfahrenden Rettungswagen. Dr. Sander gefiel mir: etwa Mitte 50, das richtige Alter für einen Chirurgen, warme Stimme, sachlich, keiner Frage ausweichend. Auch nicht der Frage nach Eigenblut. Ich hatte gelesen, dass der Körper Eigenblut besser verträgt als fremdes, sollten Transfusionen notwendig werden.

Dr. Sander lächelte milde, er lächelte öfter, denn er besaß das Herrschaftswissen: "Eigenblut? Wozu? Verzögert das Ganze nur. Das können wir lassen. Die Operation ist normalerweise unblutig." Zwei Tage vor dem Eingriff noch ein Tennismatch gegen einen alten Rivalen. Ich verlor glatt in drei Sätzen, mit Schmerzen in den Beinen. "Warte, bis ich operiert bin", versprach ich meinem Gegner. Es sollte das letzte Tennisspiel meines Lebens gewesen sein.

Als ich aus der Narkose aufwachte, spürte ich meine Beine kaum noch. An einem Galgen über mir hing ein Plastikbeutel mit dem Blut eines fremden Spenders. Der Chirurg saß auf der Bettkante und sagte, er müsse so schnell wie möglich nachoperieren, weil eine ödematöse Verschwellung auf die Nerven drücke (aus einer Nachoperation wurden drei, weil noch zwei Lecks in der Dura abgedichtet werden mussten).

Wie das passieren konnte? Dr. Sander zuckte die Achseln. Was wohl so viel wie "Shit happens" heißen sollte.

Später steckte mir ein Krankenpfleger "im Vertrauen", beim Umbetten vom Operationstisch auf die Trage sei ein Malheur passiert. Man habe mich, frisch operiert und zugenäht, in einem Moment der Unachtsamkeit fallen gelassen. Dabei sei es zu den Blutungen gekommen. Ob es sich tatsächlich so abgespielt hat? Ich hatte damals andere Sorgen, als den Sachverhalt gerichtlich klären zu lassen. Heute bereue ich das.

Meine Hoffnung, die geschädigten Nerven würden sich erholen, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Die Lähmungen nahmen im Laufe der Monate immer größere Ausmaße an. Bald hingen beide Beine schlaff herunter wie gefrorene Strümpfe auf einer Wäscheleine in Nowosibirsk. Eines Vormittags stand ein Rollstuhl in Karminrot vor meiner Tür. "Der Mercedes unter den Aktiv-Rollstühlen", schwärmte der Medizinberater, der mir das Handling erklärte.

Doch auch in einem Modell der neuesten Generation ist das Leben hart und im wahrsten Sinne des Wortes erniedrigend, da können Rollstuhl-Produzenten in ihrer Werbung noch so vollmundig von Produkten "designed for life", von "Art on wheels" und "grenzenloser Freiheit" schwärmen. Ein Rollstuhl ist ein Rollstuhl ist ein Rollstuhl. Wer auf Augenhöhe mit großen Hunden und Neunjährigen kommuniziert, weiß, wovon ich rede.

Wolfgang Schäuble und Helmut Schmidt, die nach außen so souverän mit ihrer Situation umgehen, sind prominente Respektspersonen. Keiner würde sich erlauben, über ihre Köpfe hinweg nur mit deren Begleitern zu reden. Bei Rollstuhlfahrern aus der zweiten Reihe ist das anders. "Wie kommt er denn mit der Situation zurecht?", fragt Herr Meier meine Frau, derweil ich - auf einsdreißig geschrumpft - dem Riesenschnauzer von Herrn Meier ins hechelnde Maul blicke.

Mit dem Schock, sein Leben in Starre zu verbringen, auf ständige Hilfe angewiesen zu sein, muss jeder für sich allein fertig werden. "Wir werden den Begriff Geduld für uns neu definieren müssen", sagte der Vater von Samuel Koch in einem Interview. Geduld - das impliziert die vage Hoffnung, dass es in weiter Ferne doch noch zu einer Besserung, vielleicht sogar zu einer vollständigen Heilung kommen wird.

Dum spiro, spero, schrieb Cicero einst an Atticus. Ein Satz, der uns Lateinschülern flott über die Lippen ging. Solange ich lebe, hoffe ich. Macht die Medizin nicht ständig Fortschritte? Man denke nur an die Experimente mit Stammzellen, an die Erfolge bei der Züchtung von Nervenzellen im Labor. Und war nicht erst kürzlich im Hamburger Abendblatt zu lesen, das Krebsmittel Taxol fördere die Regeneration von geschädigten Nervenfasern?

Solcherlei Nachrichten waren der Strohhalm, an den auch ich mich geklammert habe, in den ersten Monaten meines neuen Lebens jedenfalls. Irgendwann aber ist es mit dem Hoffen vorbei, man muss sich den Realitäten stellen.

Es sind die unzähligen Hürden, die uns Rollstuhlfahrer - in Deutschland sind es 1,56 Millionen - zu schaffen machen. Fast jedes Hilfsmittel muss der Krankenkasse mühselig abgetrotzt werden. Verladerampe? "Keine Kassenleistung." Neuer Rollstuhl? "Da haben wir noch ein altes Schätzchen im Bestand."

Ein kaputtes, total abgenutztes Teil, wie sich herausstellt. Ein halbes Jahr dauert es, bis endlich das vom Arzt verordnete Modell angeliefert wird. Sechs Monate, in denen ich ans Haus gekettet bin. Das ist wie sechs Monate Knast, nur ohne Aufsicht.

Nichts ist mehr selbstverständlich, jede Bahnreise, jeder Theater-, jeder Museums-, jeder Restaurantbesuch erfordert hohen logistischen Aufwand. Sind Parkplätze für Behinderte in der Nähe? Hat der Eingang Treppenstufen? Liegen die Toiletten ebenerdig? Gibt es ein Behinderten-WC mit Handlauf zum Umsteigen und unterfahrbarem Waschtisch?

Früher, unter der künstlerischen Leitung von Ulrich Waller, waren meine Frau und ich Stammgast in den Kammerspielen. Damit ist es vorbei: zu viele Treppen, kein Aufzug. Das Gleiche gilt für viele andere Theater. Fast überall heißt es: Wir müssen draußen bleiben. Wie bei Hunden vor der Metzgerei.

Selbst wenn alle Voraussetzungen stimmen, kann es passieren, dass die Plätze für Rollstuhlfahrer bereits vergeben sind. Das Kartenkontingent für Besucher auf Rädern ist meist knapp bemessen. So hält die Hamburgische Staatsoper vier Plätze im Parkett, Reihe 25, für Rollifahrer bereit. Allerdings nur bei Opern. Bei Ballettaufführungen sind es, aus welchen Gründen auch immer, lediglich zwei.

Die Liste der Orte, die Menschen mit schwerem Handicap vergessen können, ist schier endlos. Ausgenommen sind weder Kirchen (von St. Michaelis bis Zu den zwölf Aposteln) noch Schwimmbäder (Bartholomäus-Therme, Holthusenbad, Kaifu-Bad). Sogar einige Altentagesstätten sind nicht barrierefrei, drei allein in Harburg.

Speziell die historischen Bauten lassen sich, wenn überhaupt, nur mit viel Geld behindertengerecht umbauen. Aber wo ein Wille ist, ist oft auch ein Weg: Die Koralle in Volksdorf, ein mit Bürgerinitiative errichtetes Kino in einem fast 100 Jahre alten Umspannwerk, hat nicht nur ein feines, mehrfach preisgekröntes Filmprogramm.

Trotz hoher Kosten (1,1 Millionen Euro) gab's nie Diskussionen, dass ein moderner Aufzug für die Fußlahmen berücksichtigt werden musste. Er pendelt jetzt zwischen Jazzkeller im Tiefgeschoss und zwei Kinosälen im ersten Stock.

In meinem Leben als Fußgänger habe ich quasi blind einen Tisch bestellt, wenn ich ein neues Restaurant ausprobieren wollte. Was interessierte es mich, wenn eine Treppe ins Reich der Genüsse führte und wenn die Toiletten im Keller lagen! Hauptsache, der Koch war in Höchstform. In meinem Leben als Rollstuhlfahrer kommt von zehn Lokalitäten höchstens noch eines infrage. Das Marlin von Michael Wollenberg in Langenhorn ist so eine rühmliche Ausnahme. Es hat eine exzellente Küche, nirgendwo Stufen und ein großzügiges Behindertenklo. Ach, gäbe es doch mehr davon!

Besonders mau sieht es bei den Hotels aus. Das Buch "Handicapped Reisen", eine Art Varta-Führer für Rollstuhlfahrer, listet in seiner 21. Auflage knapp 400 vorbildliche Unterkünfte in Deutschland für Menschen mit Behinderung auf. Hamburg "glänzt" gerade mal mit einem Haus (AquaSport, Hotel am Olympiastützpunkt), gleichauf mit Erlangen, Neuss oder Dippoldiswalde. Berlin hat immerhin sieben Einträge, das "kleine" Leipzig vier. Schlampige Recherche? Oder traurige Realität?

Teuer wird ein Handicap allemal. Jeder Besuch bei unseren Berliner Freuden, die in einem Altbau ohne Aufzug wohnen, kostet jetzt 80 Euro - für den privaten Pflegedienst, der mich auf einem Tragesitz in den fünften Stock schleppt.

Das sind freilich Peanuts im Vergleich zu den Umbauten im Haus und am Auto. Da sind schnell hohe fünfstellige Beträge fällig. Wer im oberen Stock eines Hauses ohne Aufzug wohnt, kann gleich die Möbelpacker bestellen.

Am härtesten trifft viele der berufliche Untergang. Ich war mit dem Tag der Operation schlagartig erwerbsunfähig. Ein Pflegefall mit Anfang 50. Wer in dieser Situation ohne finanzielle Rücklagen dasteht und nicht ordentlich versichert ist, kann sich auf ein Leben in Armut einstellen.

Behinderung und Armut sind häufig miteinander verflochten. Ein Drittel der allein lebenden Behinderten zwischen 25 und 45 Jahren lebt nach Berechnungen des Sozialverbandes VdK von einem Haushaltsnettoeinkommen von unter 700 Euro.

Die Partner eines Querschnittgelähmten sind ebenfalls gelackmeiert. Ständig bittet der Pflegefall um Hilfe: Reich mir mal das Hemd. Ziehst du mir die Schuhe aus? Holst du mir die Zeitung aus dem Briefkasten? Das führt fast zwangsläufig zu Spannungen, zumal der an den Rollstuhl gefesselte Mensch zu Ungeduld neigt.

Neue Untersuchungen deuten darauf hin, dass Angehörige mittelfristig sogar höher seelisch belastet sind als direkt Betroffene. Zur physischen Katastrophe gesellt sich nicht selten die Trennung vom Partner. Verkrüppelt, gelähmt, entstellt, allein gelassen: Die Tragödien, die sich im Unfallkrankenhaus Boberg abspielen, sind herzzerreißend.

Mich persönlich ärgert am meisten die Ohnmacht, zum ständigen Zuschauen verurteilt zu sein. Nicht helfen zu können. Ich sitze im Auto und sehe im Rückspiegel, wie meine Frau den Rollstuhl über die hohe Ladekante in den Gepäckraum astet. Ich sehe zu, wie sie tankt, Reifendruck und Ölstand prüft - eine Arbeit, die sie wie alle Frauen hasst und die sie mir früher gern überlassen hat. Ich sitze am Wohnzimmerfenster und sehe zu, wie sie nach Feierabend den Rasen mäht, wie sie Unkraut jätet, die Maulwurfshügel mit dem Spaten abträgt. Ich sitze, sitze, sitze.

Wie man weiß, ist Samuel Koch praktizierender Christ. Vielleicht hilft ihm sein starker Glaube, sein Schicksal anzunehmen. Meine Fluchtburgen sind Bach, Schubert und Beethoven, John Updike und Ian McEwan. Oder auch ein Glas Rotwein.

Aber es gibt Tage, da beneide ich Samuel um seinen Draht nach oben, der bei mir irgendwann gerissen ist. Tage, die auch mit klassischer Musik und Büchern nur grau in grau sind. Tage, an denen sich das Gift in der Seele ausbreitet. Die angefüllt sind mit Selbstvorwürfen, voreilig in eine Operation eingewilligt zu haben. Mit zerstörtem Vertrauen und Zweifeln an der Integrität der Ärzte.

Das Ganze tue ihm leid, sagte mir mein Operateur in einem langen Telefonat, und ich meinte zu spüren, wie sehr er selber litt. In einem Brief, den mir die Post ein paar Tage später zustellte, schrieb Dr. Sander, er bedauere sehr, dass er mir mit der Operation nicht habe helfen können. Der Eingriff sei alles andere als einfach gewesen. Keine Rede von unterschätzten Risiken, geschweige denn Fehlern bei der Operation oder beim Umbetten. Die Rechtsabteilung ließ grüßen.

Nach Rückkehr aus Berlin - drei Tage sind verstrichen - steht der Aufzug am Ausgang ZOB immer noch still. Immerhin hängt jetzt eine frische Information an der Glastür: Ein Ersatzteil muss herbeigeschafft und eingebaut werden. Nirgendwo eine Telefonnummer für den Notfall.

Diesmal trägt mich Arthur. Über mangelnde Hilfsbereitschaft der Hamburger kann ich mich wirklich nicht beklagen. Auffallend oft sind es Ausländer beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund (und hier besonders Frauen), die mich in prekären Situationen ansprechen und helfen wollen.

Entnervt rolle ich zum Büro der Hochbahn und frage nach der Ursache für die ständigen Fahrstuhl-Ausfälle. Schuld, erfahre ich, seien die Lieferanten, die die Geschäfte unter der Erde mit Waren beliefern. Sie würden häufig das zulässige Höchstgewicht überschreiten.

Das Problem mit den defekten Aufzügen scheint nicht nur in Hamburg eine Seuche zu sein. In der Hauptstadt erzählte mir der freundliche Helfer von der Bahn, dass die Technik auch schon Altkanzler Helmut Schmidt einen Streich spielte. Er musste mit dem Feuerwehr-Lift zum Gleis gebracht werden.

Noch bin ich nicht sicher zu Hause, noch eine letzte Etappe mit der U-Bahn. Beim Aussteigen passiert es: Die kleinen Lenkräder des Rollstuhls verkanten sich im Spalt zwischen Bahnsteigkante und U-Bahn. "Zurückbleiben, bitte", fordert eine energische Lautsprecherstimme. Nur durch das schnelle Eingreifen zweier Fahrgäste kann ich aus meiner Zwangslage befreit werden. Ein ganz normaler Katastrophen-Tag neigt sich dem Ende.

*) Die Namen wurden geändert