Nicht nur die CDU muss Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen finden

Es ist einige Monate her, da fand der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler deutliche Worte über seinen Koalitionspartner. Die CDU sei eine "sozialdemokratische Partei" geworden, beschwerte er sich, und die Politik von Union und SPD sei nichts als "Einheitsbrei". Zwar standen zu dieser Zeit drei Landtagswahlen bevor, und es ging dem selbst in schwierigem Fahrwasser befindlichen Chefliberalen vor allem um publikumswirksame Abgrenzung; trotzdem traf Rösler mit seiner Äußerung die Achillesferse der deutschen Volksparteien.

Denn CDU und SPD haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr Kanten abgeschliffen und so inhaltlich einander angenähert. Mit der Agenda 2010 hatte sich die Sozialdemokratie für viele Wähler von ihrem Markenkern der Umverteilung von oben nach unten und der sozialen Gerechtigkeit verabschiedet. Die CDU sagte mit dem Aus von Atomkraft, Wehrpflicht und dem Ja zu einem Mindestlohn dem Konservativismus Lebewohl. Das alles sollte auch das Profil entschärfen und entideologisieren. Das Ziel: breitere Wählerschichten ansprechen und so in Zeiten einer sich verändernden Gesellschaft attraktiv bleiben.

Doch das Konzept geht nicht auf. Beiden Volksparteien laufen Mitglieder und Wähler davon, mal profitieren die Grünen, mal die Piraten, meistens jedoch keiner. Zwar ist schwindende Bindungskraft kein parteienspezifisches Problem - der Reformbedarf aber liegt auf der Hand. In der CDU will deshalb ein Parlamentarierkreis analysieren, warum es gerade in den Großstädten trotz der programmatischen Flexibilisierung so bescheiden läuft. Gerade hier, im heterogenen Multikultimilieu, konnten sich in den letzten Jahren vor allem SPD und Grüne durchsetzen. Auf dem Land ist es eher andersherum.

Das ist ein lohnenswerter Ansatz. Es hat Sinn, erst einmal zu schauen, was vor Ort eigentlich schiefläuft, bevor man gleich ein Patentrezept für ganz Deutschland sucht. Gut möglich, dass die Oma in Castrop-Rauxel andere Bedürfnisse hat als der Web-designer aus Eppendorf.

Doch die Operation birgt auch zwei wesentliche Gefahren: Wenn die City-Parlamentarier modernere Ansichten etwa zur gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft oder kontrollierten Abgabe von Heroin fordern, mag das einem Großstadt-Zeitgeist etwa in Hamburg entsprechen. Doch schon wenige Kilometer weiter nördlich, in schleswig-holsteinischen Dörfern, könnte das gar nicht gut ankommen. Was für neue Wähler attraktiv wirkt, verschreckt dann die bislang treue Stammklientel. Auf Kommunalebene ist das tendenziell eher unproblematisch. Schwierig wird es aber, wenn sich die Partei in der nächsten Bundestagswahl dem ganzen Land präsentiert. Großstadt-CDU und Land-CDU müssen ihre Vorstellungen dann unter einen Hut bringen können.

Zum anderen kann eine Annäherung an sonst typisch grüne oder rote Inhalte das ursprüngliche Profil noch weiter verwässern. Diese Befürchtung ist längst in der CDU angekommen: Gleichzeitig mit der Metropolen-Gruppe machen sich Abgeordnete als "Berliner Kreis" auf, den konservativen Markenkern wiederzubeleben.

Die grundsätzliche Frage, vor der nicht nur die CDU, sondern auch die SPD steht, muss lauten, was eine Volkspartei heute überhaupt noch leisten kann. Dass es Leerstellen in der politischen Interessenvertretung gibt, hat jedenfalls das Auftreten der Piraten gezeigt. Mehrheiten der 70er- und 80er-Jahre mit Werten um die 45 Prozent sind in Umfragen mittlerweile unerreichbar, 30 Prozent der Wahlberechtigten haben sich 2009 überhaupt nicht vertreten gefühlt. Dem Wesen der repräsentativen Demokratie entspricht das nicht. Können die Volksparteien also noch die sprichwörtlichen Eier legenden Wollmilchsäue sein, die eine vielfältige, vielschichtige, sich ständig im Wandel befindende Gesellschaft in der Stadt und auf dem Land adäquat vertreten? Im Moment sieht es nicht so aus.