Statt gleich auf unbestimmte Zeit in ein sibirisches Lager müssen Demonstranten gegen die Staatsmacht in Russland heute nur noch für zwei Wochen in den Arrest, oder sie kommen mit einer Geldstrafe davon; und bei Wahlen nähert sich das Ergebnis nicht mehr der 100-Prozent-Marke. Der Kreml gibt sich heutzutage schon mit einer knappen absoluten Mehrheit zufrieden. Was für ein Fortschritt an Demokratie und Zivilisation!

Im Ernst ist das aber nicht das Erhoffte. Hinter den Fassaden hat sich jede Menge Erbe aus Zaren- und Sowjetzeiten erhalten: Dazu gehören autoritäre und undurchdringliche Machtstrukturen im Kreml, Misstrauen gegenüber dem Volk und das Bedürfnis, jeden und alles kontrollieren zu wollen. Demokratie gibt es, wenn überhaupt, nur in der gelenkten Variante. Das bedeutet: Nach wie vor gewinnt derjenige die Wahlen, der die Stimmen auszählt, und nicht der, der die meisten bekommt.

Zur russischen Tradition gehören auch der Glaube an ausländische Verschwörungen und prinzipielles Misstrauen gegenüber dem Westen. So ist aus der putinschen Perspektive Hillary Clinton an den Demonstrationen in Russland schuld, weil sie es gewagt hatte, die Ungereimtheiten bei der Duma-Wahl offen anzusprechen. Die Möglichkeit, dass viele im Land mit dem Führungsduo Putin/Medwedew und den Zuständen im Riesenreich aus eigenem Erleben unzufrieden sein könnten, wird verdrängt oder negiert.

Verdrängung ist aber ein schlechter Ratgeber, Wahlfälschungen helfen nicht auf Dauer, und Druck erzeugt mittlerweile auch beim russischen Volk Gegendruck statt Wegducken. Genau 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion steht Moskau erneut an einem Scheideweg: mit voller Kraft zurück in eine Parteidiktatur oder weiter auf dem immerhin mal eingeschlagenen Weg zu mehr Offenheit und Demokratie.