Partei entdeckt in Kiel die Notwendigkeit des langen Atems in der Politik.

Es war ein gutes Jahr für die Grünen. Nach dem Superwahljahr 2011 sitzen sie in allen Landesparlamenten, sind an vier Landesregierungen beteiligt, und stellen mit Winfried Kretschmann zum ersten Mal sogar einen Ministerpräsidenten. Die einst als Ökopaxe Geschmähten haben in diesem Jahr traumhaft hohe Umfragewerte feiern dürfen und durften sich an - von meist von Dritten geführten - Debatten berauschen, wann denn nun endlich der erste Grüne Kanzler wird. Doch genau dieser Erfolg stellt die größte Gefahr für die Partei dar.

Eine Ahnung von den Risiken haben die Grünen vor einigen Wochen bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus erhalten. Nach den Wahlerfolgen im Südwesten wähnte sich Spitzenkandidatin Renate Künast schon auf dem Weg ins Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Künast mag ein ähnlich trockener Politikertyp wie Baden-Württembergs Kretschmann sein, doch Berlin ist nicht Stuttgart: Die Grünen in der Hauptstadt mussten erfahren, dass die bundesweite Schockwelle über die Atomkatastrophe von Fukushima und der süddeutsche Streit um Stuttgart 21 ihre Schubkraft verloren haben.

Wer aber in die Regierung will, darf nicht auf externe Faktoren vertrauen, sondern muss selbst Vertrauen bei den Wählern aufbauen und sie mit einer Vielzahl von Inhalten auf seine Seite ziehen. Dabei muss die Partei auch dann zusammenstehen, wenn der Erfolgsmotor ins Stottern gerät. Der Parteitag am Wochenende in Kiel hätte den Grünen zahlreiche Gelegenheiten geboten, auf großer Bühne große Fehler zu begehen. Sie hätten sich trotz sinkender Umfragewerte zu selbstbewusst aufführen und realitätsfremde Ziele beispielsweise beim Spitzensteuersatz setzen können. Die beiden Parteiflügel hätten aber auch gerade wegen der sinkenden Werte übereinander herfallen und Schuldige auf der anderen Seite suchen können. Schon oft sind grüne Parteitage zu solchen ideologischen Schlachten ausgeufert, mal ging es dabei um die Olympiabewerbung Münchens (2010), mal um dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan (2007) oder um die Trennung von Amt und Mandat (2002).

Doch dieses Mal ist die Partei auf dem Teppich geblieben: So dauerte die Veranstaltung in Kiel, deren Ende am Sonntag auf 13 Uhr terminiert war, genau bis 12.59 Uhr. In dieser Zeit verabschiedeten die Delegierten Beschlüsse zu Netzpolitik, Rechtsextremismus, Umweltschutz, Mindestlohn und Subventionsabbau, mit denen sich die Partei selbst treu bleibt. Mittlerweile definieren sich die Grünen sogar über diesen Willen zum Inhalt - und grenzen sich dabei zu neuen Konkurrenten ab. Der Grünen-Politiker Malte Spitz hat das in Kiel mit dem Blick auf die Piratenpartei so formuliert: Gegen die Schuldenfalle helfe halt nicht, bloß eine Schuldenuhr im Internet einzurichten: "Die Wirklichkeit ist eben komplexer."

Freilich klingt da auch ein wenig Neid mit auf den Raketenstart, den die Piraten bei den Berliner Wahlen und in bundesweiten Umfragen hingelegt haben. Ihnen haftet nun das Image des rebellischen Underdogs an, auf das jahrelang die Grünen Anspruch erhoben haben. Die Herausforderung für Trittin, Roth und Özdemir wird sein, diese Unangepasstheit als Teil der Marke Grün zu bewahren und den Wählern gleichzeitig seriöse Politik anzubieten.

Während auf ihren letzten Parteitagen immer eine euphorische Stimmung herrschte, sind die Grünen jetzt bei dem angekommen, was auch Radsportler die "Mühen der Ebene" nennen: die lange, flache Strecke, auf der derjenige mit der saubersten Technik und dem längeren Atem gewinnt.

Die Grünen sind gut in diese Ebene gestartet. Doch die hält manche Tücken bereit wie etwa Stuttgart 21. Und der Castor-Transport wird auch dieses Jahr wieder zum Zwischenlager in Gorleben durchkommen. Für den weiteren Weg werden die Grünen eine gute Puste brauchen.