Willy Brandt tritt nach der Guillaume-Affäre zurück. Mai 1974 wird Helmut Schmidt zum fünften Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

Hamburg. Anno 1953 tourt Helmut Schmidt mit einem VW Käfer durch Hamburg. Das gute Stück ist gebraucht, stammt noch aus der Vorkriegszeit und schnurrt wie eine Nähmaschine. Nachdem ihm drei Hamburger SPD-Wahlkreise eine Kandidatur angeboten haben, kandidiert Helmut Schmidt dennoch über die Landesliste für den Bundestag. Mit Erfolg. Im Wahlkampf setzt er moderne, in Hamburg bis dato unbekannte Werbemittel ein.

Der ihm verbundene Filmproduzent Gyula Trebitsch dreht einen fünfminütigen Film über den Kandidaten, in dem auch Ehefrau Loki und Tochter Susanne eine Rolle spielen. Ein mobiler SPD-Trupp sorgt dafür, dass der Spot bei Dunkelheit an die Wände von U-Bahn-Bögen projiziert wird.

Im Zickzackweg 6b in Othmarschen finden die Schmidts ein gemütliches Reihenhaus. Hier ist hervorragend Platz für das Trio und gelegentliche Gäste. Bis 1961 nisten sich Loki, Helmut und Susanne dort ein, bevor das heutige Heim am Neubergerweg in Langenhorn Endstation häuslicher Sehnsucht sein wird. Ermöglicht wird der Kauf des Häuschens in Langenhorn durch den Verkauf des Eigentums am Zickzackweg. Dieses war im Wert erheblich gestiegen. Außerdem gibt Helmuts Vater noch 10.000 Mark dazu, seinerzeit sehr viel Geld.

Politisch verlagert Schmidt seine Heimat von Neugraben nach Hamburg-Nord. 13.000 Mitglieder haben die Sozialdemokraten dort seinerzeit, unvorstellbar viel und mehr als der gesamte Landesverband im Jahr 2011.

Rasch wird der junge Mann mit der überragenden Rhetorik und dem anpackenden Wesen Kreisvorsitzender. Das erste Kreisbüro befindet sich in einer Baracke in Barmbek, dort werden Plakate anfangs noch selbst gepinselt und kleinere Versammlungen durchgeführt.

Später ziehen die Nord-Sozis in die Fuhlsbüttler Straße 790, in das heute noch bestehende Haus der Kleingärtner. In der Regel tagen die Genossen im Keller. "Um den Weg auf den Hof nach draußen abzukürzen, bin ich dort meist aus dem Fenster geklettert", erinnert sich Helmut Schmidt. Er hat eine begeisterte, einsatzfreudige Wahlkampfmannschaft zur Seite, die zwischen Barmbek, Fuhlsbüttel und Eppendorf flächendeckend plakatiert. Unter Schmidts resolutem Kommando werden die Stellschilder nach erfolgreicher Schlacht, denn genau so ist es fast immer, wieder eingesammelt und für kommende Wahlen gelagert.

"Helmut leitete die ersten Wahlkämpfe in Nord wie ein paar Jahre darauf die Flutkatastrophe", weiß Peter Schulz. Den Bürgermeister a. D. verbindet mit den Schmidts eine lebenslange, intensive Freundschaft. Schulz war auch Augenzeuge, wie der damalige Polizeisenator Schmidt während der unvergessenen Tage vor bald einem halben Jahrhundert ein weit schlimmeres Drama verhinderte. Ohne groß auf Paragrafen und Zuständigkeiten zu achten, wurde der Sozialdemokrat rasch Herr der Situation, die anderen aus dem Ruder zu gleiten drohte.

Auf den Bruch der Dämme 1962 und Schmidts souveränes Krisenmanagement, das seine steile Karriere beschleunigte, soll an dieser Stelle nur kurz eingegangen werden - mit Hinblick auf die bald im Hamburger Abendblatt folgende ausführliche Berichterstattung zum 50. Jahrestag der Katastrophe Anfang kommenden Jahres.

Gemeinsam mit Ideengeber Helmut Schmidt ist Peter Schulz Gründer der berühmten "Freitagsgesellschaft" in Langenhorn. Immer wieder fahren beide auch in Schmidts geliebtes Häuschen am Brahmsee.

Dass dieses Domizil künftiger Jahrzehnte überhaupt gefunden wurde, liegt an einer Dienstfahrt im Winter 1957/58. Irgendwo zwischen Bonn und Hamburg bleibt der Schnellzug der Bundesbahn in Schneeverwehungen stecken. Nichts geht mehr. Die Wartezeit nutzen drei Herren in einem Erste-Klasse-Abteil zum anregenden Gespräch. Zwei von ihnen sind der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Helmut Schmidt und sein (Partei-) Freund Willi Berkhan.

Dritter im Bunde ist ein Busunternehmer aus Kiel. Er preist die Vorzüge Schleswig-Holsteins, denn dort kennt er sich durch seinen Beruf wahrlich aus. Ganz speziell schwärmt er vom Brahmsee, gut 70 Kilometer entfernt von Hamburg südwestlich von Kiel gelegen. Schmidt und Berkhan spitzen die Ohren. Das Interesse steigt, als der Busunternehmer von einem seiner Fahrer erzählt. Der wiederum kenne einen Bauern namens Steffen, der sein etwa 10.000 Quadratmeter großes Grundstück am Brahmsee verkaufen wolle.

Im Februar 1958 stehen die beiden Schmidts am Brahmsee in Holstein, blicken über die typisch norddeutsche, nicht gerade üppige Landschaft, auf den gefrorenen, auch im Sommer kalten See - und sind begeistert. "Liebe auf den ersten Blick", sagt Loki. Helmut gibt später zu Protokoll: "Es war ein miserabler Acker, ein karger Sandboden, auf dem kein Roggen gedieh."

Das Areal wird zwischen dem Zug fahrenden Trio brüderlich geteilt. Es gibt einen gemeinsamen Zugangsweg, der über einen Moränenhügel und vorbei an Weideflächen mit Holzgattern führt. Als Eigentümerin lässt Helmut Schmidt seine Ehefrau eintragen - zur materiellen Absicherung.

Die ersten Besucher beschreiben die schmidtsche Behausung am See später als Hütte oder Laube: ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine kleine Küche mit zwei Herdplatten. "Eine für Kaffee, die andere für Bockwürstchen", pflegt Loki zu scherzen. Dazu ein Plumpsklo. Luxus sieht anders aus. Alles auf anfangs 30 Quadratmetern untergebracht. Bausubstanz: ein bisschen Holz, Wände aus Presspappe.

Strom? Fließend Wasser? Heizung? Fehlanzeige. Beleuchtet wird die Butze mit Petroleumlampen; für Wärme sorgt ein Petroleumofen. Wahrscheinlich würden diese Details kaum eine Menschenseele interessieren, hätte es nicht den 5. Mai 1974 gegeben, ein weiteres für die Familie Schmidt bedeutendes Datum. An diesem Tag führt die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume zum Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt.

Konsterniert sitzt der SPD-Politiker mit seinen Getreuen in Münstereifel. Willy Brandt meint aus dem Bauch heraus: "Der Helmut muss das machen!" Der damit gemeinte Finanzminister reagiert anfangs alles andere als begeistert, sagt dann jedoch zu Ehefrau Loki: "Erst mal muss ich das jetzt ja wohl machen." Aus "erst mal" werden letztlich mehr als acht Jahre.

Am 16. Mai 1974 wird Helmut Schmidt zum fünften Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Von der Tribüne des Plenarsaals aus verfolgen Gattin Loki und Tochter Susanne den großen Moment. Eines späteren Tages wird Helmuts Vater Gustav Schmidt Loki fragen: "Wie heißt das noch, was der Helmut da macht?"

Er macht eine ganze Menge. Zum Beispiel rückt er seine Heimatstadt Hamburg in den Blickpunkt - international. Zug um Zug macht der Kanzler mit der Mütze den Stadtteil Langenhorn zur heimlichen Hauptstadt.

Mancher reibt sich verwundert die Augen: Da reist am 18. Mai 1978 der damals zumindest zweitwichtigste Mann der Welt, KPdSU-Chef Leonid Breschnew, mit einem 130-köpfigen Tross aus Moskau nach Deutschland, um ganz große Politik zu machen. Und wo setzt sich der mächtige Russe mit dem deutschen Kanzler an einen Tisch? In einem ganz normalen, rot geklinkerten Doppelhaus in Hamburg-Langenhorn. Mit Jägerzaun, kleiner Pforte, putziger Gartenlampe, Rhododendren und Tannen dahinter.

Auch Breschnew selbst weiß offensichtlich nicht so recht, ob er im richtigen Film mitspielt. "Wo ist denn die Mauer?", will er wissen. "Welche Mauer, Herr Staatspräsident?", fragt Loki Schmidt via Dolmetscher nach. Na ja, meint Breschnew, die Sicherheitsabsperrung, der Schutz, das ganze Gedöns, wie der Hamburger so sagt.

Helmut Schmidt, von sozialdemokratischem Bürgerstolz beseelt, bittet immer öfter die Großen der Erde in sein kleines Refugium. Wohnfläche in der Anfangsphase: 120 Quadratmeter. Was den Amerikanern der Landsitz Camp David, ist den Deutschen der Neubergerweg, die nach dem Mediziner Professor Theodor Neuberger benannte Verbindung zwischen Alsterkrugchaussee und Tangstedter Landstraße.

Und zwar immer öfter. In den insgesamt acht Jahren schmidtscher Kanzlerschaft geben sich namhafte Persönlichkeiten fast die Klinke in die Hand. Kanadas Premier Pierre Trudeau reist ebenso nach Hamburg wie Ägyptens Staatschef Sadat oder Juan Carlos aus Spanien.

Dänemarks Ministerpräsident Anker Joergensen kommt mehrmals am Wochenende zum Hausbesuch an den Neubergerweg, und auch Griechenlands Konstantin Karamanlis wird von Loki und Helmut Schmidt herzlich willkommen geheißen.

Weitere Ehrengäste auf privatem Parkett sind Hollands damalige Kronprinzessin Beatrix und Spitzenpolitiker aus Portugal, der Tschechoslowakei, Mexiko, Kamerun und Italien. Diese Reihe ließe sich problemlos fortsetzen. Die Großen der Weltpolitik gewöhnen sich an das heimliche Kanzlerbüro in Langenhorn.

Lesen Sie morgen: Teil 6 - Stammtischpolitiker: Helmut Schmidts "Kneipe" am Neubergerweg wird zum Treffpunkt für Staatsgäste und Mitglieder der "Freitagsgesellschaft". Wegbegleiter erinnern sich.