Der Altkanzler öffnet für das Hamburger Abendblatt seine private Schatztruhe: sein Archiv, aber auch persönliche Fotoalben seiner Familie.

An der Klingel steht "Schmidt". Nicht mehr, nicht weniger. Nach dem Läuten öffnet eine nette Dame mit buntem Wollpullover. Es ist die langjährige Sekretärin Ruth, die Helmut Schmidt nach wie vor zur Seite steht. Der Hausherr ist eine treue Seele.

Auch "Otti", der frühere Leibwächter, ist unverändert im Einsatz - in Schmidts Hausbar hinter dem Esszimmer, nach Hamburger Sitte bei ihm "Kneipe" genannt.

Früher lud der damalige Kanzler seine Jungs regelmäßig in einen Dorfkrug am Brahmsee zu deftiger Kost ein, Sauerfleisch mit Bratkartoffeln zum Beispiel. Wenn die Presseleute ganz weit weg waren. Aber das nur am Rande.

"Herr Schmidt wartet im Arbeitszimmer", sagt die Dame mit dem Wollpullover und bittet herein. Durch diese Tür sind sie also gegangen: Loki natürlich und Tochter Susanne. Aber auch Leonid Breschnew, Henry Kissinger, Valéry Giscard d'Estaing und viele andere Größen der Weltpolitik. Als Schmidt sein Doppelhaus zur Kanzlerbegegnungsstätte umwidmete und den Neubergerweg in Langenhorn international in den Blickpunkt rückte. Auch das hat Hamburg gutgetan.

Durch den Flur und das gemütliche Wohnzimmer geht's zu einer kleinen, mit einem Fahrlift ausgestatteten Treppe. Die Tür des Zimmers im Zwischengeschoss steht offen. Der Hausherr sitzt im Trainingsanzug und mit Schlappen am Schreibtisch. Im Rollstuhl.

"Moin, Herr Schmidt!" Jede andere Anrede hat er sich verbeten. "Moin!", murmelt der Altbundeskanzler. Auf einem Beistelltisch stehen zwei Teetassen, eine Thermoskanne, ein Porzellanschälchen mit Keksen, eine weiße Kerze. Und ein Aschenbecher, natürlich. "Nehmen Sie Platz, junger Mann", sagt der Hausherr.

Ein weiter Weg war es bis zu diesem Termin an politisch geweihter Stätte - und zum aktuellen Buch "Ein Leben" über Hannelore und Helmut Schmidt ebenfalls. Die vorherigen Treffen hatten in seinem Büro in der "Zeit"-Redaktion stattgefunden. Von Anfang an geprägt von einer verblüffend warmherzigen Art des Politikers im Unruhestand, von seinem phänomenalen Gedächtnis, seiner enormen Disziplin nach Lokis Tod im Oktober 2010. Wirkte er direkt danach gebrechlich, kam die alte Form zusehends zurück. Jedes Mal umgab "Schmidt Hamburg" eine Aura, von der andere nur träumen können. "Bloß keine Publizität", hatte er von Anfang an gebeten. Auch denke er partout nicht daran, eine Biografie zu verfassen. Schließlich ist der Mann erst 92 Jahre alt, wird am Tag vor Heiligabend 93 und plant für das Frühjahr 2012 eine ausgedehnte China-Reise.

Mehr denn je ist Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt in aller Munde. Jetzt ist also der ideale Moment, ihm zu Lebzeiten, aber auch der verstorbenen Loki aus Hamburger Sicht ein Denkmal zu setzen. Ehre, wem Ehre gebührt.

Der Mann mit der Mütze, der Zigarette und früher gewiss auch der "Schnauze" hatte stets die Heimat im Herzen. Sein Hamburg! Von der Geburt an im Dezember 1918 an der Finkenau 35 bis zum heutigen Tag mit dem vertrauten Refugium in Langenhorn. Mehr als 92 Jahre liegen zwischen diesen Stationen, ein Weltkrieg, Jahrzehnte des Kalten Krieges, eine beispiellose politische Karriere, aber auch eine große Liebe. Beim Buch "Ein Leben" geholfen haben neben den persönlichen Gesprächen mit Helmut Schmidt auch Kontakte zu mehr als zwei Dutzend Zeitzeugen in aller Welt. Überall gingen die Türen weit auf - sobald das Ehepaar Schmidt genannt wurde. Dazu zählen sämtliche noch lebenden Bürgermeister Hamburgs, aber auch private Freunde der Schmidts wie der frühere US-Außenminister Henry Kissinger oder der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing. Besuche bei namhaften Journalisten wie Reinhold Beckmann, Giovanni di Lorenzo und Theo Sommer ergaben neue Facetten eines faszinierenden Paares, das an der Spitze war, jedoch niemals die Nase oben trug.

Auch heute noch erinnert sich Monsieur Giscard d'Estaing gern an die Treffen in Langenhorn. "Das erste Mal war ich überrascht über die Einfachheit und die natürliche Bescheidenheit des Wohnhauses der Schmidts", sagte er dem Hamburger Abendblatt. "Keinerlei Prunk oder Luxus schmückte das Heim des Bundeskanzlers, und doch wirkte es gleichzeitig sehr gepflegt und schön gehalten. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, das Haus gleicht seinem Herrn: norddeutsch und authentisch." Helmut Schmidt, so Frankreichs Staatspräsident im Ruhestand, habe immer Bescheidenheit an den Tag gelegt und jegliche Zurschaustellung oder Inszenierung gemieden. Giscard: "Er machte sich regelmäßig lustig über die protokollarischen Vorlieben der Franzosen." Typisch Schmidt Hamburg.

Auch Treffen mit Schulfreundinnen Loki Schmidts und befreundeten Botanikern, mit denen sie die Liebe zur Natur verband und Expeditionen nach Übersee unternahm, halfen beim Blick hinter die Kulissen einer Frau, die aus ärmsten, aber behüteten Verhältnissen stammte - und später mit dem Kaiser von Japan dinierte und Chinas Staatschef Mao Tse-tung die Hand schüttelte. Wie schnell ist die Zeit verflogen. Vom ersten Dom-Besuch der drei männlichen Schmidts - also Vater Gustav Schmidt und die beiden Söhne - mit der Tram und 20 Pfennigen in der Tasche bis zum Sonntagsvergnügen als Kiebitz auf dem Fußballplatz des schon damals aktiven Fußballvereins "BU" (Barmbek-Uhlenhorst). Vom ersten Kuss zwischen Loki und Helmut im Stadtpark, den Wirren um seinen halb jüdischen Vater Gustav in der Nazizeit bis zum Neustart nach dem Krieg.

Dabei wäre Helmut Heinrich Waldemar Schmidt am liebsten schon früh dem Lockruf der weiten Welt gefolgt. Mit einem von Vater Gustav spendierten blau karierten Jackett und einer Portion Mut im Herzen hatte er sich im Personalbüro der Deutschen Shell vorgestellt. Er wollte nach Holländisch-Indien reisen, dem heutigen Indonesien.

Weitere Versuchung war das Angebot eines Onkels, beschrieben im nächsten Serienteil, nach Minnesota in die USA auszuwandern. Loki war skeptisch, der von Abenteuerlust und Wagemut inspirierte Helmut hin- und hergerissen. Letztlich gab Töchterchen Susanne, geboren 1947, den Ausschlag, der Heimat die Treue zu halten.

Südöstlich Londons, in Kent, ist die Bankmanagerin heute nicht nur beruflich erfolgreich, sondern fand auch privat ihr Glück - an der Seite des irischen Bankers Brian Kennedy. Während eines Treffens ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter erinnerte sich Frau Dr. Susanne Kennedy-Schmidt an ihre Kindheit. Zum Beispiel an den roten Roller, den die Eltern ihr zum Geburtstag schenkten. Oder an wunderschöne Weihnachtsfeste. Meist gab es Kartoffelsalat und Würstchen. Und manchmal auch Musik: Vater Helmut am Klavier, Mutter Loki und Tochter Susanne mit Blockflöten.

Unvergesslich sind ebenso die "kleinen" Ferien zu Ostern und im Herbst. Dann ging's gemeinsam hinaus in die Sommerfrische - nach Bosau am Plöner See. Dort lernte Susanne das Schwimmen. 2005 begaben sich Helmut und Loki Schmidt gemeinsam mit Susanne und Brian auf Spurensuche. "Bei diesen Erinnerungen geht mir das Herz auf", sagt Susanne Schmidt. Dies gilt ebenfalls für den Rückblick auf glückliche Zeiten in früheren Wohnungen der Familie.

Auch wenn diese unbeschwerten Tage längst vergangen sind und Susanne Schmidt seit Jahrzehnten in England lebt, kehrt sie etwa viermal jährlich in ihre Geburtsstadt zurück. Unabhängig von ihren berühmten Eltern hat sie sich längst einen eigenen Namen gemacht. Im März 2011 hielt sie bei den "Weimarer Reden" die Eröffnungsansprache. Ihre Heimat trägt Susanne Schmidt nach wie vor auf der Zunge.

Natürlich hegt sie daheim in Kent Erinnerungsstücke. Eines ist ein von Loki gestickter Lebensbaum mit Vögeln, den Susanne Schmidt eingerahmt hat. Lokis naturgetreue Zeichnungen reichern das Buch "Ein Leben" an - ebenso wie viele andere, bisher nicht veröffentlichte Fotos und Dokumente von unschätzbarem historischen Wert. Dazu zählt auch ein handschriftlicher Brief des Philosophen und Arztes Albert Schweitzer aus Afrika an Helmut Schmidt. Darin bekundet der Friedensnobelpreisträger seinen Respekt vor den Leistungen des Senators Schmidt während der Flutkatastrophe 1962.

Dass diese unbekannten Details nunmehr publik werden, basiert auf Helmut Schmidts Hilfsbereitschaft. Er öffnete nicht nur seine Haustür, sondern auch sein Privatarchiv. Mit enormer Hilfe der engagierten Archivleiterin Heike Lemke durften Akten, aber auch die persönlichen Fotoalben der Familie Schmidt durchstöbert werden. Eine einzige, großartige Schatzkiste, die einen Spagat über ein Jahrhundert deutsche Geschichte ermöglicht.

Das Langenhorner Doppelhaus und das rein privat finanzierte Archiv, so ist es Loki und Helmut Schmidts Letzter Wille, sollen eines hoffentlich fernen Tages als Museum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Um ein einmaliges Leben zu dokumentieren.

Lesen Sie am Montag: Teil 2 - Freunde fürs Leben: Der kleine "Schmiddel" knüpft zarte Bande zu Hannelore. Und entdeckt ein Familiengeheimnis, das ihn und seinen Vater Kopf und Kragen kosten kann.