Ärzte sprechen von “Totgeburten“, Eltern von “Sternenkindern“. Eine Mutter erzählt, wie sie den Verlust ihres Sohnes verarbeitet.

Hamburg. Ihren Sohn im Kreißsaal kurz nach der Geburt das erste Mal in den Arm zu nehmen, diesen Moment hatte Tanja Krüger (Name geändert) herbeigesehnt - und zugleich gefürchtet. "Er sah ganz friedlich aus", erinnert sich die 40-Jährige und lächelt. Geschrien hat der kleine Junge nicht, als er zur Welt kam. Die Augen waren geschlossen. Sein Körper war regungslos. Er hatte Abschied von der Welt genommen, bevor er sie kennenlernen konnte. "Die Karten, die wir an Verwandte und Freunde geschickt haben, waren Geburts- und Todesanzeige zugleich."

"Tot geboren" nennen es Mediziner, wenn ein Baby im Mutterleib oder während der Geburt stirbt und mehr als 500 Gramm gewogen hat. Betroffene nennen es "still geboren" oder sprechen von Sternenkindern - weil das Kind nun "auf einem Stern wohnt", wie es einst Antoine de Saint-Exupéry ausdrückte. Rund 3000 Kinder werden in Deutschland jährlich tot geboren - für Eltern ist es das Schlimmste, was ihnen widerfahren kann. Die Öffentlichkeit bekommt von diesen Schicksalsschlägen meist nichts mit. Eine Ausnahme ist der dramatische Vorfall in der Asklepios-Klinik Altona, in der vor Kurzem ein Babyleichnam gestohlen wurde. Der tote Junge ist nach wie vor verschwunden, den Ermittlern fehlt eine Spur. "Bislang sind keine Hinweise zum Auffinden des Säuglings bei uns eingegangen", sagt Polizeisprecher Holger Vehren. Die traumatisierten Eltern hoffen weiter, dass der Leichnam ihres kleinen Jungen gefunden wird.

Wie schmerzhaft die Erfahrung ist, sein Baby durch eine Totgeburt zu verlieren, kann vermutlich nur jemand nachempfinden, der selbst betroffen ist. So wie Tanja Krüger. "Es war ein Abgrund, der sich vor mir aufgetan hatte", sagt die Frau mit den langen braunen Haaren, die ihren richtigen Namen und den ihres verstorbenen Kindes nicht in der Zeitung lesen möchte. "Plötzlich war alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte."

Es ist erst wenige Monate her, dass ihr Sohn in ihrem Bauch gestorben ist. In der 37. Schwangerschaftswoche - drei Wochen vor dem Geburtstermin. "Zu Hause war alles vorbereitet", sagt Tanja Krüger, die mit ihrem Mann und den zwei gemeinsamen Kindern im Hamburger Westen lebt. Der Windelvorrat war aufgestockt, der Kinderwagen stand bereit, die kleinen Strampelanzüge lagen gefaltet in der Kommode. "Bei einer Kontrolluntersuchung an einem Montag war noch alles in Ordnung", sagt sie. Zwei Tage später spürte sie plötzlich keine Bewegungen, keine Tritte gegen die Bauchdecke mehr. Panisch sei sie zunächst nicht geworden. "Auch als wir an dem Freitag in die Klinik fuhren, bin ich davon ausgegangen, dass die Ärzte sagen: Alles okay."

Stattdessen überbrachten ihr die Mediziner eine schreckliche Nachricht: Das Herz des Kindes schlägt nicht mehr. "Diese Worte zu hören war für mich das Schlimmste", sagt Tanja Krüger und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Vielleicht habe sie es unterbewusst bereits geahnt - doch wahrhaben wollte sie es nicht, dass ihr Sohn nicht mehr lebt. "Dass ich mein totes Kind dann auch noch zur Welt bringen sollte, war für mich ein riesiger Schock. Ich hatte höllische Angst davor." In dem Moment hatte sie nur noch einen Wunsch: nach Hause zu fahren, zu ihrer Familie. Kehrt zu machen vor dem Abgrund. "Ich brauchte diese Zeit, den Kontakt zur Normalität", sagt sie. "Als ich die Klinik verließ, die Autos und die Menschen auf den Straßen sah, habe ich gemerkt, dass die Welt noch nicht zusammengebrochen war. Dass das Leben noch weitergeht." Am nächsten Tag brachte sie ihren Sohn zur Welt. Nach nur zwei Stunden. Ohne Schmerzmittel. Mit ihrem Mann an der Seite. "Dass ich die Geburt geschafft habe, hat mir Kraft gegeben. Kraft, an die ich nicht mehr geglaubt habe." Drei Stunden verbrachte das Paar im Kreißsaal mit seinem kleinen Jungen. Wiegte ihn im Arm, streichelte über das kleine Köpfchen. Die Hebamme nahm Fußabdrücke des Babys - eine der wenigen Erinnerungen, die der Familie bleiben. "Uns war es wichtig, unseren Sohn zu Hause zu verabschieden", sagt Tanja Krüger. "Um zu begreifen, dass es ihn gibt." Und dass er tot ist. "Mir hat es geholfen, und ich bin sehr dankbar, dass er bei uns war." Es waren wenige, aber kostbare Momente, die die Familie mit dem Jungen teilen konnten. Augenblicke, die ein wichtiger Bestandteil des Abschiedsprozesses waren. Als der Bestatter das Kind abholte, habe ihre Tochter geweint. "Warum nimmt der fremde Mann das Baby mit?", fragte das Mädchen. Was Tanja Krüger geantwortet hat, weiß sie nicht mehr genau. Aber dass auch ihr die Tränen in die Augen schossen, daran kann sie sich erinnern.

Den Eltern den Schmerz nehmen, das kann niemand. "Aber es hilft, mit Freunden und Gleichgesinnten darüber zu sprechen", sagt Tanja Krüger, die sich Hilfe beim Hamburger Verein "Verwaiste Eltern und Geschwister" geholt hat. Auch die Beerdigung habe beim Abschied vom Kind, bei der Verarbeitung eine bedeutsame Rolle gespielt. "Freunde und Verwandte hatten dabei die Möglichkeit, unseren Sohn noch mal zu sehen." Die Mutter nennt sie Zeugen. Menschen, die bestätigen können, dass es ihren Sohn wirklich gegeben hat.

Die Eltern des verschwundenen Babyleichnams können ihren Sohn nicht bestatten. Sie haben keinen Ort der Trauer, keine Stelle auf dem Friedhof, an der sie sich dem Jungen besonders nahe fühlen können. "Sie befinden sich ohnehin in einem Ausnahmezustand", sagt Tanja Krüger. "Dass sie ihr Kind jetzt noch nicht einmal beerdigen können, ist grausam."

Auch wenn das tote Baby nicht gefunden werden sollte - vergessen werden die Eltern ihr Kind nie. Ebenso wenig wie Tanja Krüger ihren Sohn vergessen wird. Ein selbst gemaltes Bild an der Wand im Wohnzimmer erinnert die Familie Krüger an das Baby. Seine Mutter hat ihn als kleinen Jungen mit einer Krone gemalt - ein lächelnder kleiner Prinz.