Nach dem Verschwinden des Baby-Leichnams äußert sich Chefarzt Ragosch über das Thema Fehlgeburten und den richtigen Umgang damit.

Hamburg. Ein Baby durch eine Fehl- oder Totgeburt zu verlieren ist das Schlimmste, was einem Paar widerfahren kann. Die Eltern des toten Jungen , der aus der Asklepios-Klinik Altona gestohlen wurde, müssen mit diesem harten Schicksalsschlag jetzt fertig werden. "Dass sie ihren Sohn jetzt noch nicht einmal bestatten können, ist eine Katastrophe", sagt Volker Ragosch, Chefarzt der Frauenklinik der Asklepios-Klinik Altona. Seit 25 Jahren ist der zweifache Familienvater in der Geburtshilfe tätig, in der Freud und Leid nah beieinander liegen. Rund 3000 Kinder werden in Deutschland jährlich tot geboren. Sternenkinder werden sie genannt - weil ihr Leben so lang dauerte wie das Aufblitzen eines Sterns. Volker Ragosch hat sich in seinem Buch "Sternenkinder - Wenn eine Schwangerschaft zu früh endet" mit dem Thema intensiv befasst. Im Abendblatt-Interview spricht der 49-Jährige über die Trauer der Eltern, den Abschied vom Kind und das Tabuthema Fehlgeburt.

Hamburger Abendblatt:

Die Mutter des verschwundenen Jungen musste ihr Kind kurz vor dem geplanten Entbindungstermin tot zur Welt bringen. Wie häufig passiert so etwas?

Volker Ragosch:

Das kommt nur sehr selten vor. Bei uns werden jährlich rund 2700 Kinder geboren. Davon kommen etwa zwei bis drei tot zur Welt.

Ein traumatisches Erlebnis ...

Ragosch:

Kurz vor dem Geburtstermin sein Kind zu verlieren ist ein Drama. Zu Hause ist alles vorbereitet für die Ankunft des Babys: Das Kinderzimmer ist eingerichtet, der Kinderwagen steht bereit, und alle wissen, dass dort in wenigen Tagen ein Kind leben wird. Ohne professionelle Hilfe wird es für die Betroffenen schwierig, dieses schicksalhafte Erlebnis zu verarbeiten.

Inwieweit können Sie und Ihre Kollegen diese Eltern unterstützen?

Ragosch:

Es ist sehr wichtig, den Müttern zu vermitteln, dass sie nicht die Schuld am Tod ihres Kindes tragen und dieser keine Auswirkungen auf weitere Schwangerschaften hat. Viele Frauen, die eine Tot- oder Fehlgeburt hatten, machen sich Vorwürfe und denken, dass etwa das Glas Sekt an Silvester die Ursache war. Zudem hat das Abschiednehmen eine große Bedeutung.

Warum?

Ragosch:

Wir raten den Eltern, sich von ihrem toten Kind zu verabschieden. Wenn sie das nicht machen, kann das später ein großer Verlust sein. Wir geben den Eltern Zeit, in Ruhe Abschied zu nehmen, ihr Kind - wenn es groß genug ist - im Arm zu halten. Zudem bieten wir an, Fußabdrücke von dem Kind zu nehmen und es zu fotografieren.

Etwa jede fünfte Schwangerschaft endet zu früh mit einer Fehlgeburt. Ist es einfacher für die Frau, wenn sie ihr Kind bereits in den ersten Wochen verliert?

Ragosch:

Sobald eine Frau weiß, dass sie schwanger ist, ist es ihr Kind. Wenn es zu einer Fehlgeburt kommt, ist das für die meisten Frauen sehr belastend - egal, in welcher Schwangerschaftswoche sie ist. Das wird von dem Umfeld jedoch häufig bagatellisiert.

Inwiefern?

Ragosch:

Du warst ja noch ganz am Anfang. Du bist ja noch jung und kannst wieder schwanger werden: Solche Sprüche machen es für die Frauen nur noch schlimmer.

Warum wissen Freunde, Bekannte, Verwandte häufig nicht, wie sie sich verhalten sollen?

Ragosch:

Sie haben Angst, nicht die richtigen tröstenden Worte zu finden. Aus Unsicherheit schweigen sie das Thema lieber tot. Dabei ist es den Eltern wichtig, ihren Schmerz zu teilen. Doch in unserer Gesellschaft ist das Thema Fehlgeburten ein Tabu - weil es sehr emotional ist. Fakt ist, dass es viele Frauen betrifft und keine Rarität ist.